Ressentiment: das Kreisen der Gedanken um versäumte Reaktionen
Kreisen des Denkens
Das Kreisen der Gedanken um eine nicht ausgeführte oder falsche Reaktion, löst immer wieder ähnliche Emotionen aus und sensibilisiert wiederum für ähnliche Verletzungen. Diese Tyrannei des besessenen Denkens greift vor allem dann um sich, wenn wir zu unseren Emotionen keinen Abstand mehr halten können und uns damit von unseren subtileren Gefühlen abschneiden.
Wenn Sie grübeln, schauen Sie durch die verzerrte Linse Ihrer negativen Stimmung und folgen dann den hell erleuchteten Pfaden in Ihrem Gehirn zu den negativen Knoten. All diese Pfade sind durch Ihre negative Stimmung miteinander verbunden. Wenn Sie also einen negativen Knoten verlassen, folgen Sie sofort dem nächsten hell erleuchteten Pfad zu einem weiteren negativen Knoten. 1
Sog der Emotionen
Emotionen haben einerseits das Potenzial, uns wach zu rütteln und uns bei lebenswichtigen Entscheidungen zu leiten. Andererseits können sie gefährlich werden, wenn wir, durch ihre elementare Wirkkraft überwältigt, gedanklich oder handelnd, ihrem Sog blind folgen. Wenn heftige Emotionen einmal unser Leben völlig beherrschen, verlieren Gefühle die Fähigkeit, uns durch das Leben zu navigieren.
Damit wir unsere Richtung im Leben wissen, müssen uns unsere Gefühle und Emotionen Informationen liefern, statt uns zu beherrschen. Um nicht von heftigen Emotionen überflutet zu werden, müssen wir sie zu fassen bekommen, bevor sie uns in Aufruhr versetzen. Der Trauma-Experte Peter Levine nennt zwei wichtige Techniken, die helfen können, Emotionen zu erspüren, bevor sie zu stark werden:
Gewahrsein und Verkörperung
Wenn wir merken, dass besessenen Grübeleien beginnen die subtileren Gefühlsnuancen zu überschatten, hilft die Intention, uns wieder bewusst diesen subtilen Empfindungen zuzuwenden. Selbst wenn es gerade in Situationen, in denen wir uns machtlos den Emotionen ausgeliefert fühlen, so schwierig ist, diesen Abstand zu halten: Erst wenn wir eine beobachtende Stellung einnehmen können, verschaffen wir diesen leiseren Gefühlen Gehör. Nur so kann uns unsere Intuition Hinweise geben, warum wir auf bestimmte Situationen oder Sätze emotional so stark reagieren.
Zurückhaltung ermöglicht uns, Emotionen zu zähmen, und uns damit anzufreunden, sodass sie uns leiten können. So können wir uns des unterschwelligen Stroms unserer Emotionen bewusst werden, bevor sie außer Kontrolle geraten. […] Die Werkzeuge, mit denen wir das zustande bringen, sind die Zwillingsschwestern Gewahrsein und Verkörperung. 2
Entkoppelung
Durch eine beobachtende Haltung werden die subtileren Aspekte des Gefühls zugänglich. Fehlt jedoch diese Distanz, so besteht die Gefahr eines unendliche Feedbacks zwischen Emotionen und Gedanken. Denn wenn wir uns ohne Distanz in die Emotion begeben, werden die lauten emotionalen Reaktionen uns immer dominieren und unsere Reaktionen wiederholen sich ewig und sinnlos. Das Denken, das dazu beitragen könnte, die durch Emotionen aufgeworfenen Probleme zu lösen, evoziert dann selbst wieder Emotionen. Das emotionale Denken wird selbst zum Problem. Daher unterscheidet Patañjali im Yoga-Sutra Buddhi – die mentale Fähigkeit zu unterscheiden von Manas – der bloßen mentalen Aktivität, die nicht immer zu Klarheit führt.
Durch die Entkoppelung des Komplexes Empfindung-Gedanke-Emotion bewegt sich das Erleben auf subtilere, freiere Gefühlsschattierungen zu. Dieses Zurückhalten ist kein Unterdrücken, sondern ermöglicht die Entstehung eines größeren Gefäßes und eröffnet uns damit einen umfassenderen Erfahrungsspielraum, um Empfindungen und Gefühle zu halten und differenziert wahrzunehmen. 3
Übersetzung
Wenn Emotionen durch die Übersetzung in Gefühle bestimmte Gedanken auslösen, werden diese Gedanken wiederum emotional aufgeladen. Gleichzeitig werden sie mit der Situation in Verbindung gebracht, die die gefühlten Emotionen und die zugehörigen Gedanken ausgelöst hat. Diese, durch gefühlte Emotionen in Gang gesetzten Gedanken können sich wiederum verselbstständigen. Sie wirken über die eigentliche Affektwelle hinaus und so rufen wiederum neue Emotionen hervor.
Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen werden alle Gedanken in der mentalen Speicherbank unter einem Ablagesystem abgelegt, das auf dem damit verbundenen Gefühl und seinen feineren Abstufungen basiert (Gray-LaViolette, 1982). Sie werden nach Gefühlston abgelegt, nicht nach Tatsachen. Folglich gibt es eine wissenschaftliche Grundlage für die Beobachtung, dass Selbsterkenntnis und Gewahrsein durch die Beobachtung von Gefühlen viel schneller gesteigert werden kann als durch die Beobachtung von Gedanken. 4
Anstoß des Erkenntnisprozesses
Gefühle sind zunächst bloß Hinweise des Körpers, die den Gedankenfluss stören, um uns auf etwas aufmerksam zu machen. Antonio Damasio zeigt in seiner kulturgeschichtlichen Betrachtung Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kultur, wie die wichtigsten kulturellen Entwicklungen durch Gefühle angestoßen wurden. In der Menschheitsgeschichte lösten Emotionen und die Gefühle, die sie hervorriefen, Prozesse der Problemlösung aus. Die Erkenntnisse, die daraus hervorgingen, führten schließlich zu kulturellen Errungenschaften.
Mentaler Aufruhr
Die Quelle des Gefühls ist das Leben auf dem Drahtseil, das zwischen Gedeihen und Tod balanciert. Deshalb sind Gefühle mentaler Aufruhr, beunruhigend oder prachtvoll, sanft oder intensiv. Sie können uns subtil und eher intellektuell erregen, aber auch heftig und eindringlich, sodass sie unsere volle Aufmerksamkeit verlangen. Selbst in ihrer positivsten Form neigen sie dazu, den Frieden zu verletzen und die Ruhe zu stören. 5
Diese Betrachtung der Entstehung von Kulturleistungen aus Problemen und Fragen, die durch gefühlte Spannungszustände ausgelöst wurden, verdeutlicht, dass Gefühle notwendig sind, um unsere intellektuelle Entwicklung anzustoßen. Gefühle sind geistige Phänomene, die sich jedoch auf körperliche Prozesse oder Zustände beziehen.
Zwischentöne und Übergänge
Gefühlt werden kann die Haut und das Innere des Körpers, Körperkontakt, die erotische Anziehung eines nahen, begehrten Körpers, aber auch die Geschwindigkeit, mit der ein Körper auf uns zukommt, sowie physischer und psychischer Schmerz, eine Kränkung, Emotion, Gestimmtheit oder Befindlichkeit – Nervosität, Behagen, Spannungszustände, ästhetisches Wohlgefallen oder Erhabenheit, aber auch so ungreifbares und flüchtiges wie die Verbundenheit zu einem anderen Menschen oder das Fehlen derselben, innere Leere oder Erfüllung, sowie unendlich viele Zwischentöne und Übergänge, wie sie Robert Musil in seinen Erzählungen Drei Frauen so meisterhaft einzufangen verstanden hat.
Gefühle und Emotionen
Während Emotionen am Ausdruck zu erkennen sind, sind Gefühle für Außenstehende nicht ersichtlich. Gefühle können genauer definiert werden als zu Vorstellung werdende, sensorische Muster, die Schmerz, Lust und Emotionen signalisieren. 6
Emotionen werden von Antonio Damasio als komplexe, stereotypisierte Reaktionsmuster 7 definiert. Zu diesen gehören zunächst primäre Emotionen wie Freude, Trauer, Angst, Ärger, Überraschung und Ekel; darüber hinaus sekundäre oder soziale Emotionen wie Verlegenheit, Eifersucht, Neid, Scham, Schuld, Stolz; aber auch Hintergrundemotionen wie Anspannung oder Entspannung, Erschöpfung oder Tatkraft, Unbehagen oder Wohlbefinden, Furcht oder Vorfreude.
Regulatorische Funktion der Emotion
Emotionen werden automatisch ausgelöst. Sie haben eine regulatorische, homöostatische Funktion, das heißt sie sollen ein durch innere oder äußere Umstände gestörtes Gleichgewicht wiederherstellen. Darüber hinaus führen sie im Idealfall zur Entstehung von vorteilhaften Umständen für den Organismus.
Bei Organismen, die mit Bewusstsein ausgestattet sind, kann das Bewusstsein die regulierende Wirkung von Emotionen unterstützen. Erst dadurch, dass Emotionen gefühlt werden, können sie zum Gegenstand einer Vorstellung werden. Durch Vermittlung der Gefühle werden Emotionen der Erkenntnis zugänglich gemacht.
Als Vorstellungen gelangen Emotionen an die Oberfläche des Bewusstseins und können so das Denken durchdringen. Sie können aber auch umgekehrt, wie etwa beim Schreiben über Gefühle, vom Denken durchdrungen werden. Der Körper stellt dem Denken mit seinen Emotionen und Stimmungen Fragen. Er liefert aber auch durch Glücksgefühle, die wir wiederholt erleben möchten, Hinweise, die zu neuen Erkenntnissen führen können.
Kompass
Funktional betrachtet sind körperliche / Sinnesgefühle der Kompass, an dem wir uns in unserem Leben orientieren. Sie erlauben uns einzuschätzen, was für uns von Wert ist, was wir in unser Leben einbeziehen oder woran wir uns anpassen müssen. […] Auf Empfindungen beruhende Gefühle steuern die Anpassungsreaktionen an das, was wir (ein)schätzen. Emotionen hingegen treten genau dann auf, wenn verhaltensbedingte Anpassungen (die auf diesen Einschätzungen beruhen) fehlgeschlagen sind. […] Eine Person, die vor einer Bedrohung ungehindert davonlaufen kann, empfindet keine Angst. 8
Ohne die Aufruhr durch gefühlte Emotionen hätte das Denken keine Herausforderung, könnte sich nicht weiterentwickeln. Es würde ihm auch eine gewisse Tiefe fehlen, die das Denken an die Existenz bindet. Indem sie den Gedankenfluss stören, stoßen gefühlte Emotionen nicht nur geistige Entwicklungen an. Sie sind darüber hinaus unentbehrlich für existenzielle Entscheidungsprozesse. Dies wird sehr deutlich, wenn Bereiche des Gehirns ausfallen, die für Emotionen zuständig sind.
Avidya, die Wurzel aller emotionaler Verstrickungen
Im Yoga-Sutra von Patañjali zählen die Emotionen zu den Klesha, den Hindernissen auf dem Yoga-Weg. Im zweiten Kapitel des Yoga-Sutras (Sadhana Padha) geht es unter anderem um diese Kleshas, ihre Wirkungsweisen.
. avidya–asmita–raga–dvesha–abhinivesah-klesah (Sutra II.3)
Avidya (die falsche Auffassung über die wahre Natur der Dinge), Asmita (Egoismus), Raga (Begehren), Dvesha (Abneigung) und Abhinivesa (Todesangst) sind die fünf Kleshas (Bedrängnisse). 9
Avidya, die Verwechslung des Sehers (Purusha) mit dem Gesehenen (Prakrti) ist der Nährboden für alle anderen Kleshas. Deshalb führt Patanjali Avidya vor alle anderen Kleshas an. Asmita, bezeichnet die Identifizierung mit Körper, Verstand, Wahrnehmungs- und Handlungsorganen. Sie äußert sich sowohl als Stolz, Egozentrik, Hochmut, als auch in Minderwertigkeitsgefühlen, Selbstmitleid, Traurigkeit, Begrenztheit und Sturheit; Raga äußert sich als Sucht, Begehren, Eifersucht, Neid, Gier, Sehnsucht und Leidenschaft; Dvesha als Abneigung, Ekel, Ärger, Wut, Zorn, Hass; Abhinivesha als Überlebenstrieb, Angst, Todesangst.
Schwach, schlafend, unterbrochen oder aktiv
Diese Kleshas können, so Patañjali in Sutra 2.4, jeweils in unterschiedlichen Stufen vorhanden sein. Sie können prasupta (schlafend), tanu (schwach), vicchinna (unterbrochen) oder udara (aktiv) sein. Kleshas wachen auf, sobald passende Ereignisse (etwa Provokationen oder Kränkungen) wahrgenommen oder erinnert werden. Ein Klesha kann auch durch ein anderes, von ihm verschiedenes Klesha unterbrochen werden.
Die Aktivierung eines bestimmten Kleshas stößt wiederum bestimmte Vrittis (Gedankengänge) an, die nach bestimmten Mustern ablaufen. Samskaras erzeugen wiederum Denkvorgänge, die die Wünsche, Tendenzen oder Abneigungen der Kleshas ausführen. So entstehen weitere Gedanken und Handlungen, die wiederum zu neuen Samskaras und schließlich zu Karma führen.
Leiderzeugende Gedanken
Patañjali unterscheidet deshalb zwischen klishta (Leid-erzeugenden) und aklishta (nicht Leid-erzeugenden) Denkvorgängen. Außerdem differenziert er zwischen Pramana (richtiger Wahrnehmung), Viparyaya (falscher Wahrnehmung bzw. Irrtum), Vikalpa (Vorstellungen) und Smrti (Erinnerung).
Für die Entstehung des Ressentiments ist diese Unterscheidung der mentalen Aktivitäten wichtig. Denn es sind meist Erinnerungen an frühere Erfahrungen (Smrti) die zu falscher Wahrnehmung (Viparyaya) führen. Diese bewirken in Folge meist Leid-erzeugende Gedanken (Klishta Vritti).
Trauma Mantren
Wenn ein Mensch traumatisiert ist, sind seine Überzeugungen extrem eng und hinderlich. Beispiele für diese felsenfesten Überzeugungen, die innerlich wie Mantren wirken, sind Sätze wie: Man kann Menschen nicht trauen, Die Welt ist ein gefährlicher Ort oder Ich bin nicht liebenswert. Diese Glaubenssätze sind oft mit ursprünglichen Ängsten verbunden und überwiegend negativ und einengend. Ich habe für diese hinderlichen Vorurteile den Begriff vorschnelle Erkenntnisse geprägt. 10
Anders als beim Trauma geht jedoch die Hemmung oder Verschiebung des Gegenimpulses im Ressentiment sehr langsam vor sich. Sie ist vor allem kein körperlicher, sondern ein geistiger Prozess, der auf Vorstellung und schwachem Denken beruht. Wenngleich dadurch, wie bei einer Retraumatisierung, auch wiederum Emotionen ausgelöst werden können.
Nach-leben mit Verzögerung
Im Ressentiment [handelt es sich] um das wiederholte Durch- und Nachleben einer bestimmten emotionalen Antwortreaktion gegen einen anderen […], durch die jene Emotion eine gesteigerte Vertiefung und Einsenkung in das Zentrum der Persönlichkeit sowie eine damit einhergehende Entfernung von der Ausdrucks- und Handlungszone der Person erhält. Dieses Immer wieder Durch- und Nachleben der Emotion ist hierbei von einer bloß intellektuellen Erinnerung an sie […] sehr verschieden. Es ist ein Wiedererleben der Emotion selbst – ein Nachfühlen, ein Wiederfühlen. 11
Gefühlte Kränkung
Der wichtigste Ausgangspunkt für die Bildung eines Ressentiments ist, so Max Scheler, der Rache-Impuls – eine Reaktion auf eine gefühlte Kränkung. Die Hemmung und Verschiebung der Reaktion entsteht aus einem Gefühl der Ohnmacht.
Der Vergleich zwischen Trauma- und Ressentiment-Entstehung soll nicht andeuten, dass einem Trauma zwangsläufig ein Ressentiment folgen muss. Selbst wenn das Trauma eine Gewalterfahrung impliziert, muss der oder die Traumatisierte nicht mit Rachegedanken darauf reagieren. Und selbst dann, wenn Rachegedanken im Spiel sind, entsteht ein Ressentiment erst dann, wenn sich die immer wieder unterdrückten und verschobenen Rache-Impulse zur Rachsucht aufstauen.
Racheimpulse
Racheimpulse führen zur Ressentiment-Bildung um so mehr, je mehr das Rachegefühl eigentliche Rachsucht wird, je mehr sich die Richtung des Racheimpulses auf unbestimmte Objektkreise verschiebt, die nur gewisse Merkmale gemeinsam haben müssen, je weniger zugleich sie sich durch Vollzug der Rache an einem bestimmten Objekt befriedigt. […] Ist Rachsucht eingetreten, so werden Vorfälle, die Anlass zu einem inneren Racheakt geben können, auch gerade (ohne bewussten Willensakt) trieb-artig aufgesucht, oder durch Täuschungstendenz in alle möglichen Handlungen und Äußerungen anderer, die gar nicht verletzend gemeint waren, Intentionen der Verletzung fälschlich hineingetragen. Die vorhandene Rachsucht sucht sich die Gelegenheit ihres Ausbruchs. 12
Unterdrückung der Racheimpulse
Die Unterdrückung des ursprünglichen Racheimpulses wird, so Scheler, immer subtiler. So werden zunächst die Verletzungen des Selbstwertgefühls, dann die Rachephantasien und schließlich sogar die Racheregungen selbst verdrängt.
Doch was heißt überhaupt Rache? […] Rache, rächen, […] heißt: stoßen, treiben, vor sich hintreiben, verfolgen, nachstellen. […] Das rächende Nachstellen widersetzt sich im Voraus dem, woran es sich rächt. Es widersetzt sich ihm in der Weise, dass es herabsetzt, um dem Herabgesetzten gegenüber sich selbst in die Überlegenheit zu stellen und so die eigene, für einzig maßgebend gehaltene Geltung wiederherzustellen. Denn die Rachsucht wird vom Gefühl des Besiegt- und Geschädigt-seins umgetrieben. 13
Neid: das Recht, sich zu vergleichen
Max Scheler betont, dass zur Entstehung des Ressentiments eine gewisse Gleichstellung des Verletzers mit dem Verletzten gehört. Denn wenn sich derjenige, mit dem man sich vergleicht, durch seinen Reichtum, seine soziale Stellung oder seine überragenden Leistungen weit über die eigene Stellung oder die eigene Kapazität hinaushebt und deshalb unerreichbar scheint, kann dies zur Bedrohung des Selbstwertgefühls werden und schließlich ein Ressentiment auslösen.
Die äußerste Ladung von Ressentiment muss demnach eine solche Gesellschaft besitzen, in der, wie in der unsrigen, ungefähr gleiche politische und sonstige Rechte respektive öffentlich anerkannte, formale soziale Gleichberechtigung mit sehr großen Differenzen der faktischen Macht, des faktischen Besitzes und der faktischen Bildung Hand in Hand gehen: In der jeder das ‚Recht‘ hat, sich mit jedem zu vergleichen, und sich doch faktisch nicht vergleichen kann. 14
Status durch Arbeit?
Der Stadt-Soziologe Richard Sennett nennt einen weiteren Grund für neidvolle Vergleiche. Dieser trete vor allem dort häufig auf, wo Menschen aus verschiedenen Klassen zusammenkommen. Aufgrund einer neuen Vorstellung von Arbeit werde die soziale Klasse personalisiert. Das heißt, der Status einer Person wird auf seine/ihre beruflichen Leistungen zurückgeführt, ohne andere Faktoren in Betracht zu ziehen. Diese Personalisierung der Klasse bewirke, dass sich jeder mit jedem vergleicht, und dass der soziale Status eine existenzielle Bedeutung erlangt.
Anders als bei ererbten Privilegien besagt der Gedanke der Meritokratie, dass die Stellung in der Gesellschaft davon abhängen sollte, wie gut jemand in seiner Arbeit ist. […] Die Meritokratie verbindet den Glauben an gleiche Startbedingungen mit der Legitimität ungleicher Ergebnisse. […] Obwohl der Industriekapitalismus kaum etwas tat, um gleiche Startbedingungen für junge Leute zu schaffen, […] führte man die ungleichen Ergebnisse dennoch auf Talent oder Antrieb oder irgendeine andere persönliche Eigenschaft zurück statt auf Umstände, an denen der Einzelne kaum etwas zu verändern vermochte. 15
Gefühlte Abhängigkeit
Da die Unterdrückung der Racheimpulse oft durch eine Abhängigkeit entsteht, spricht Nietzsche im Hinblick auf das Ressentiment von Sklavenmoral. Er charakterisiert die Perspektive des Ressentiments in der Genealogie der Moral hauptsächlich als neiderfülltes Hinaufblicken von Sklaven zu Herren.
Während alle vornehme Moral aus einem triumphierenden Ja-sagen zu sich selber heraus wächst, sagt die Sklavenmoral von Vornherein Nein zu einem Außerhalb, zu einem Anders zu einem Nicht-Selbst: und dies Nein ist ihre schöpferische Tat. Die Umkehrung des wertschätzenden Blickes – diese notwendige Richtung von außen statt zurück zu sich selbst – gehört eben zum Ressentiment. 16
Nachgefühl der Schwachen?
Doch richtet sich das Ressentiment und der Neid – wie am Fremdenhass ersichtlich wird – nicht immer nach oben. Oft schielt der Neid in Richtung der Konkurrenten oder – etwa im Distinktions-Ressentiment sogar nach unten gegen sozial schwächere Bevölkerungsgruppen.
[Nietzsche] bleibt einem konservativen Elitedenken verbunden, in dem Ressentiment-Kritik Teil eines Kulturkampfes von oben ist, der Ansprüche unterer Schichten und Klassen als Neid und Missgunst delegitimieren will. […] Doch seine Überlegungen lassen sich fruchtbar machen, wenn sie aus der elitistischen Verkürzung herausgelöst werden. Ressentiment meint dann weit mehr als nur ein Sklavenaufstand der neidischen Missgunst. 17
Politisches Kapital
Wie Max Scheler betont auch der Autor Reinhard Olschanski, dass das Ressentiment recht gleichmäßig über alle Schichten, Stände und Klassen verteilt ist. Es spaltet dennoch die Gesellschaft, wenn es politisch instrumentalisiert wird. Genau diese Instrumentalisierung des Ressentiments durch rechte Parteien hat (nicht nur) in Europa gerade Hochkonjunktur. Es ist deshalb wichtiger denn je, die Affektlogik des Ressentiments zu verstehen.
Diesen, dem Ressentiment inhärenten Mechanismus der projektiven Identifikation, machen sich rechte Politiker aller Länder zunutze. Dieser Mechanismus besteht darin, dass verdrängte Anteile des Selbst auf ein, als feindlich wahrgenommenes, Außen projiziert werden. Erwünschte Anteile werden hingegen in einer distanzlosen Identifikation angeeignet. Der populistische Aufrührer spiegelt in dieser distanzlosen Aneignung die narzisstischen Machtphantasien seiner Wähler. Er/sie verkörpert die Stärke und Schlagfertigkeit, die dem ressentimentalen Subjekt gerade abgeht.
Störung
So folgte etwa der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders genau dieser Affektlogik des Ressentiments. In einer denunziatorischen Aktion stilisierte Wilders den freien Zugang von BürgerInnen aus östlichen EU-Mitgliedsstaaten zum europäischen Arbeitsmarkt zur Zielscheibe des Neides.
Mit seiner Freiheitspartei PVV […] richtete er einen Meldepunt Midden- en Oost-Europeanen ein, eine Meldestelle für Störungen durch Mittel und Osteuropäer, die aus der Freizügigkeit angeblich resultieren: Werden Sie von (Mittel- und Osteuropäern) belästigt? – so lautet eine Frage auf der Webseite des Meldepunktes. Oder haben Sie Ihren Arbeitsplatz an einen Polen, Bulgaren, Rumänen oder andere Mittel- und Osteuropäer verloren? Wir wollen es gerne hören. 18
Wer sich beschwert hat recht
An dieser exemplarischen Aktion wird eine typische Ausformung des neuen Ressentiments oder der neuen Rechten sehr deutlich. Die schon angesprochene neoliberale Beschwerde-Politik wird in einer hinterhältigen Strategie zusätzlich mit fremdenfeindlichen Vorurteilen und Ressentiment-geladenen Neidgefühlen assoziiert.
Das neue Ressentiment ist Teil einer Politik, die aus der lange geübten Praxis des weg-Sehens und der Entsolidarisierung auch noch politisches Kapital schlagen will, indem sie die entstandenen sozialen Probleme aus den vermeintlichen Wesenseigenschaften einer anderen Kultur deduzieren will. 19
Umkehr von Ursache und Wirkung
Nicht nur Ursache und Wirkung werden in der Logik des Ressentiments verwechselt. Auch die Werte kehren sich um. Die eigene Aufwertung ist nur über die Abwertung anderer erreichbar. Wenn Neid zur Bedrohung des Selbstwertes führt, kann schließlich nur noch das als Wert anerkannt werden, was in unserer beschränkten Möglichkeit liegt.
Wenn dies geschieht, dann beginnt das Herabziehen aller Werte, die letztlich in der Verleumdung der Welt und ihrer Werte endet. Die Umkehrung des wertschätzenden Blickes, von der Nietzsche spricht, soll durch Wilders Aktion offenbar eine Landkarte des abgewerteten Außen und des damit indirekt aufgewerteten Innens schaffen. Denn diese notwendige Richtung von außen statt zurück zu sich selbst gehört eben zum Ressentiment.
Ekel: Verinnerlichung von Feindbildern
Der verqueren Argumentationslinie der Neuen Rechten folgend, sollten die zum Feindbild erklärten Minderheiten in den angefügten Fragen der Denunziations-Webseite durch Stichworte wie Verschmutzung, Trunkenheit, Verlotterung auch noch zu Ekel-behafteten Abjekten stigmatisiert werden.
Dies ist eine gängige Praxis der Feindbildkonstruktion, deren letzter Schritt die Entmenschlichung des Gegners ist. Nachdem die PVV unter Geert Wilders mit dem Schüren von Islamophobie 2010 schon über 15 Prozent der Stimmen errungen hatte, waren nun die nächsten Sündenböcke gefunden. Die Opfer von Störungen sollten in dieser Aktion, neben den Gegenstand der Belästigung, sowohl die Herkunft des Störers angeben, als auch den Ort an dem diese Störung stattgefunden hat.
Hasskanal
Die mentale Kartierung die Wilders vornimmt, ist auch deshalb so verstörend, weil sie elementarste Operationen der Orientierung, das Anzeigen und Indizieren, für die Raumbesetzung des Ressentiments kolonisieren will. […] Denn das Projekt des Ressentiments besteht gerade nicht darin, die Wunde zu bezeichnen, es besteht vielmehr im paradoxen Versuch […] diese [Wunde] mittels ihrer Symptome ab[zu]spalten und nach außen [zu] versetzen. Die symptomale Feindbestimmung wird zu seinem Therapieprogramm. Hier schafft es sich seinen […] Hasskanal und das Objekt, das es mit seinem Hass überschwemmt. 20
Die auf Neid und Ressentiment bauende populistische Politik hat auch zu repressiveren Gesetzen geführt, die kleinste Störungen der Öffentlichkeit schon mit Gefängnisstrafen verfolgt. Wobei durch die Fokussierung auf ohnehin schon marginalisierte Gruppen, die soziale Hierarchie noch einmal öffentlich bestärkt und zementiert wird. Es beginnt damit, dass die Polizei zum Beispiel in Frankreich verstärkt in Banlieue-Siedlungen patrouilliert, in denen der Anteil von Immigranten aus den ehemaligen französischen Kolonien sehr hoch ist. Wobei besonders junge Migranten unter Generalverdacht stehen.
Strafe als Selektionsverfahren
In den USA bilden Afroamerikaner und Hispanos den Großteil der immer weiter steigenden Gefängnis-Population. Oft bleiben unschuldig Angeklagte ewig in Untersuchungshaft und kommen nur frei, wenn sie sich für ein Vergehen schuldig bekennen, das sie oft gar nicht begangen haben. Vorwiegend sind dies Vergehen, die nicht nachzuweisen sind, da sie sich nur auf die Aussagen von Polizisten stützen – wie etwa Widerstand gegen die Staatsgewalt oder Beamten-Beleidigung. Diese erzwungenen Geständnisse oder Selbstbeschuldigungen bestätigen nicht nur wieder und wieder die Vorurteile der Polizei, der Richter und der Bevölkerung. Sie schlagen sich auch im Vorstrafenregister der Beschuldigten nieder, was wiederum ökonomische Konsequenzen für die Betroffenen hat.
In den letzten 20 Jahren sind in den Vereinigten Staaten der Anteil der Freilassungen auf Kaution bis zum Prozess und die als Kaution festgelegten Summen unaufhörlich gestiegen. Unabhängig von der Schwere der Tatvorwürfe ist das ökonomische Selektionsverfahren auf diese Weise zu einer maßgeblichen Diskriminierungsquelle im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft geworden. […] Schätzungen zufolge sitzen von den 2,2 Millionen Häftlingen in den Vereinigten Staaten mehr als zwei Millionen im Gefängnis, ohne dass sie Anspruch auf einen Prozess hatten, von denen ein […] sicher beträchtlicher Teil sich ungeachtet ihrer Unschuld schuldig bekannt hat [weil ihnen dafür eine frühere Entlassung versprochen wurde]. 21
Nihilismus
Die an der Quelle des Ressentiments liegende erste Verschiebung – der temporale Aufschub der Reaktion auf eine Verletzung, oder ein durch eine Katastrophe entstandenes überwältigendes Gefühl der Ohnmacht – verschiebt sich immer weiter, springt auf immer höhere Ebenen der Sinnstiftung über, bis das Ressentiment das gesamte Weltbild und die darauf aufbauenden Wertungen infiziert. Doch dieser Nihilismus, diese Entwertung der Werte, um sich nicht selbst entwertet zu fühlen, ist, so Scheler, eine Selbsttäuschung:
Die phänomenale Eigenart der durch das Ressentiment bewirkten Werttäuschungen, das Erlebnismäßige Besondere der inneren Haltung eines Menschen, der zum Beispiel die ihn drückenden fremden Werte verleumdet, besteht daher nicht darin, dass ihn die fremden positiven Werte als positive, hohe Werte überhaupt nicht im Erlebnis gegeben wären; dass sie für sein Erlebnis gar nicht da wären. […] Die Werte sind für ihn als positive und hohe noch da, aber gleichsam überdeckt von den Täuschungswerten, durch die sie nur schwach, gleichsam transparent hindurchscheinen. 22
Das Sündenbock-Phänomen
Die Affektlogik des Ressentiments bestimmt nicht nur unser persönliches Leben, sondern vergiftet – wenn sie unreflektiert ihre Wirkung entfalten kann – auch den öffentlichen Diskurs und das soziale Klima. Gerade in Krisenzeiten finden, so René Girard, Furcht und kollektive Frustration ihre Befriedigung indem sie auf die Sündenböcken projiziert werden.
Der Ausdruck Sündenbock bezeichnet gleichzeitig die Unschuld der Opfer, die gegen sie gerichtete kollektive Polarisierung und die kollektive Finalität dieser Polarisierung. Die Verfolger [der zu Sündenböcken erklärten Minderheit] schließen sich in der Logik der mit Verfolgung verbundenen Vorstellung ein und finden nicht mehr aus ihr heraus. 23
Rene Girard zufolge sind als Opfer ausschließlich diejenigen zu betrachten, auf die sich die, durch den emotionalen Rückstau verschobenen Hassgefühle ergießen. Opfer der rechten Mobilisierung, des Mobbing in der Schule und am Arbeitsplatz oder unter extremen Bedingungen sogar des kollektiven Lynchmordes.
Was die Opfer-Thematik subvertiert, ist der Umstand, dass rechte Agitatoren ihre vom Ressentiment geplagten Wähler als Opfer einer Politik hinstellen, die die Fremden nur allzu willkommen heißt und diesen auch noch überproportionale Hilfe zukommen lässt. Hilfe die eigentlich den Opfern des Ressentiments zustehen sollte.
Neid-Argumentation
Es werden also durch das Wecken von Neidgefühlen, Opfer gegen Opfer ausgespielt. Eigentlich dient dieses Manöver den neoliberalen rechten Parteien aber nur dazu, immer mehr soziale Errungenschaften für alle abzubauen, was schließlich auch die Opfer des Ressentiments trifft.
So wurden etwa, bevor Hartz IV in Deutschland eingeführt wurde, auf privaten und öffentlichen Fernsehkanälen häufig Reportagen gesendet, die aufdecken sollten, wie Notstandshilfe-Empfänger in Saus und Braus leben.
Wie die Beschwerden den öffentlichen Raum immer ärmer machen, dienen die von rechten Politikern geschürten Neidgefühle dazu, den sozialen Zusammenhalt schleichend immer weiter zu schwächen. Die Neidgefühle sind, wie die Beschwerden über Belästigungen im öffentlichen Raum, bloß ein Mittel zum Zweck. Sie sollen den Abbau des Sozialsystems rechtfertigen.
Stereotypen der Verfolgung
René Girard nennt drei Stereotypen der Verfolgung. Die Suche nach Schuldigen wird dann besonders akut, wenn sich die Gesellschaft in einer existenziellen Krise befindet, die ihre Ordnung bedroht und ein starkes kollektives Gefühl der Ohnmacht bewirkt. Girard nennt als Beispiel die Pestepidemien im Mittelalter und in der Antike, Dürrekatastrophen, gesellschaftliche Umwälzungen. Gegenwärtig sind es unter anderem Finanzkrisen, Terroranschläge und die Auswirkungen des Klimawandels.
Die Vielfalt der tatsächlichen Ursachen hat dabei kaum Einfluss auf die Art, wie die Katastrophen erlebt wird. Wichtig ist: Es muss jemand Schuld sein!
Zweitens wird die Verfolgung des Opfers immer mit einem Tabu-Bruch oder einem angeblich verübten monströsen Verbrechen des Sündenbockes gerechtfertigt. Diese Untat soll für das Hereinbrechen der Katastrophe oder den Zusammenbruch des geordneten Kosmos direkt oder indirekt verantwortlich sein.
Das dritte Stereotyp der Verfolgung ist die Zugehörigkeit der Sündenböcke zu einer bestimmten, der Verfolgung ganz besonders ausgesetzten Gruppe: Fremde, Angehörige einer anderen Religion, Ethnie, Rasse, physisch- oder psychisch Kranke, oder von der Norm abweichende Individuen, aber auch Katalysatoren einer möglichen Transformation der Gesellschaft, die sich über Tabus und Regeln hinwegsetzen.
Zwischen den beiden ersten Stereotypen besteht […] ein enger Zusammenhang. Die Opfer werden entdifferenzierender [Chaos-stiftender] Verbrechen angeklagt [Tabu-Brüche, die die Fundamente der herrschende Ordnung in Frage stellen], um die Entdifferenzierung der Krise mit ihnen in Verbindung bringen zu können. In Wirklichkeit jedoch sind es ihre Opferzeichen, die sie als Opfer der Verfolgung kennzeichnen. […] Die Opferkategorien scheinen eine Veranlagung zu entdifferenzierenden Verbrechen zu haben. 24
Dazu-gehören wollen
Fremde werden auch deshalb oft zu Sündenböcken, weil sie meist allein schon durch ihre Sprache und ihre abweichenden Gebräuche zu erkennen geben, dass sie nicht dazugehören.
Unter mimetischem Begehren versteht Rene Girard, dass Begehren übertragbar ist. Was der eine begehrt, wird auch für den anderen interessant und begehrenswert. Dadurch entsteht zugleich Verbundenheit und Konkurrenzneid.
Wenn der eine den anderen nicht nachahmt, sagt dieser: Was ist los mit dir? Und so versuchen sie, völlige Harmonie zu erreichen, und landen in völliger Disharmonie, ohne zu wissen, warum. Das ist mimetisches Begehren. 25
Opfer zur Gewalteindämmung?
Auf dem Höhepunkt dieser durch Eifersucht und Neid entstehenden Disharmonie muss die Gewalt kanalisiert werden, um die Gemeinschaft wiederherzustellen. Es ist das mimetische Begehren, das einerseits die Feindseligkeiten innerhalb der Gruppe auslöst und andererseits den Mob zusammen schweißt und gegen das Opfer der Verfolgung verschwört.
Girards Untersuchungen der Mythen nach diesen Verfolgungs-Stereotypen zeigt, dass die Logik des Ressentiments, nach Sündenböcken für die aufgeschobenen Racheimpulse zu suchen, so alt ist wie die Menschheit.
Folgt man Girards These, so stehen hinter den meisten Schöpfungsmythen reale Menschenopfer. Aus Gründen der Gewalteindämmung und der Wiederherstellung der Ordnung wurden diese Sündenböcke von der Gemeinschaft rituell geopfert und danach als Helden oder sogar als Gottheiten verehrt.
Während der längsten Zeit der Menschheitsgeschichte brachte der Mechanismus des einzelnen Opfers ohne Zweifel vielerlei Religionen hervor, die deshalb so effizient waren, weil die Gläubigen sich niemals dieses fruchtbaren Prinzips bewusst wurden. Sie glaubten fälschlicherweise, dass es die Götter seien, die durch diese Opfer gnädig gestimmt werden sollten und nicht ihre eigene Gemeinschaft. Die Wut dieser Gemeinschaft war es, die ihren Fortbestand bedrohte. 26
Im Griechischen wird diese Reinigung von aller Gewalt innerhalb der Gemeinschaft als Katharsis bezeichnet. Diese Reinigung muss nicht immer gewaltsam vor sich gehen. Etwa dann, wenn sie durch eine Tragödie auf der Bühne beim Publikum ausgelöst wird. Auf der Bühne wird, so Girard, die Gewalt des Mythos selbst zum Thema. Deshalb kann die Tragödie als eine Form des kollektiven Ritus verstanden werden, der eine ästhetische Distanzierung von der im Mythos enthaltenen Gewalt bezeugt.
Sklaven und Herren?
In der Genealogie der Moral behauptet Nietzsche, das Ressentiment sei von der Sklavenmoral des Christentums als Gerechtigkeit interpretiert worden, um sich den Herren moralisch überlegen fühlen zu können.
Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der Tat, versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten. 27
Da die frühen Christen (Sklaven) von den übermächtigen Römern (Herren) verfolgt wurden, erfand ihr Ressentiment das Konzept der moralischen Gerechtigkeit. Diesem Konzept zufolge werden alle, Sklaven wie Herren, nach den gleichen moralischen Werten von Gott, der höchsten Instanz, am Tag des jüngsten Gerichtes gerichtet.
Diese imaginäre Rache drückte sich auch in der Umwertung dessen aus, was zuvor als gut und schlecht galt:
Teil dessen, was diese Umwertung erreicht, ist die Verklärung […] von Schwäche in etwas Verdienstvolles. Konkret wird ängstliche Niedrigkeit in Demut, Unterwerfung in Gehorsam, Harmlosigkeit oder Feigheit in Geduld, Elend in ein Zeichen der Erwählung durch Gott usw. hineingelogen. (GM I,14). Im Lichte dieser Aufwertung können sich die Sklaven an den Herren rächen, indem sie den Herrn und ihre Lebensweise als böse anprangern und mit Recht darauf hoffen, dass sie von Gott bestraft werden. 28
Rückwendung des Ressentiments auf sich selbst
Der asketische Priester spielt in dieser Umwertung des Ressentiments zur moralischen Gerechtigkeit als Heiland, Hirte und Anwalt der kranken Heerde eine Hauptrolle. Den Sprengstoff des Ressentiments so zu entladen, dass er die Heerde und den Hirten nicht zersprengt, sei sein Kunststück. Denn die gewaltsame, kathartische Affekt-Entladung ist, so Nietzsche, gerade die größte Erleichterung, eine Art Betäubung des Leidens am Ressentiment.
Das Kunststück des asketischen Priesters sei es, die Suche des ressentimentalen Subjekts nach Schuldigen, nach Sündenböcken, auf sich selbst zurückzuwenden.
Ich leide: Daran muss jemand schuld sein – also denkt jedes krankhafte Schaf. Aber der Priester sagt: Recht so mein Schaf! Irgend jemand muss daran schuld sein: aber du selbst bist dieser Irgend-Wer, du selbst bist daran allein schuld, – du selbst bist an dir allein schuld! 29
Durch die Rückwendung des Ressentiments entsteht das schlechte Gewissen, das unkontrollierte Ausbrüche gegen Unschuldige in Schach halten soll. Gleichzeitig wird aber, durch diese Wendung gegen sich selbst, die Hemmung die das Ressentiment kennzeichnet, noch um ein Vielfaches verstärkt.
Anwalt der Opfer?
René Girard wirft Friedrich Nietzsche vor, zwar als einziger Philosoph erkannt zu haben, dass die Mythen im Gegensatz zum Christentum und zum Alten Testament die Position der Verfolger eingenommen haben, dass er sich aber trotzdem nicht auf die Seite der Opfer gestellt habe. Vielmehr habe er sich – indem er das Christentum für den Anwalt der Opfer hielt – auf die Seite der Verfolger gestellt.
Erkenne man jedoch den Mechanismus des Sündenbocks, den Nietzsche nicht erkannt habe, so müsse man anerkennen, dass das Christentum nicht Anwalt der Schwachen, sondern Anwalt der Wahrheit über den Sündenbockmechanismus sei.
Bei aller berechtigter Kritik an Nietzsches Polemik gegen die Schwachen und die Opfer muss man jedoch auch im Auge behalten, dass Schwach und Stark, Sklave und Herr bei Nietzsche nicht unbedingt die soziale Stellung betrifft. Vielmehr bezeichnet es den Grad der Ressentiment-Anfälligkeit eines Individuums. Das heißt, es zeigt an, ob bejahende oder verneinende, aktive oder reaktive Kräfte in ihm/ihr vorherrschend sind.
Die Krankhaften sind des Menschen große Gefahr: nicht die Bösen, nicht die Raubthiere, 30
Tarantel Herzen
Entgegen dem Anschein geht es Nietzsche hier nicht darum, Gewalt zu verherrlichen. Vielmehr hält er das Ressentiment in seinem passivischen, rachsüchtigen Schwelen für viel gefährlicher als die aggressive Selbst-Bejahung.
Denn dass der Mensch erlöst werde von der Rache: Das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach langem Unwettern. Aber anders wollen es freilich die Taranteln. […] Rache wollen wir üben und Beschimpfung an allen, die uns nicht gleich sind – so geloben sich die Tarantel-Herzen. 31
Spricht hier nicht aus den Herzen der Taranteln – dem Symbol für Rachedurst und Ressentiment – das reinste mimetische Begehren? Hat Nietzsche den Sündenbockmechanismus wirklich nicht erkannt?
Verfolger
Hatte Nietzsche, wenn er von Schwachen sprach, nicht vielmehr die Opfer des Ressentiments im Sinne, also eigentlich die Ressentiment-geplagten potenziellen Verfolger, die immer nach Schuldigen suchen, sich selbst aber als ohnmächtige Opfer fühlen?
Dass die Kranken [Ressentiment-geladenen] nicht die Gesunden krank machen […] das sollte doch der oberste Gesichtspunkt auf Erden sein. 32
Stark und übermenschlich ist ein Individuum für Nietzsche dann, wenn es nicht zu Ressentiments neigt. Vielleicht hätte es ein solches Individuum gar nicht nötig, sich in mimetischer Ansteckung einem Mob anzuschließen und seinen Hass in der Verfolgung eines Fremden zu kanalisieren?
Selbst-Bejahung
Ist dieses starke Individuum nicht selbst ein Fremder, der alle Zeichen des Opfers der Verfolgung trägt, sich aber dennoch nicht als Opfer fühlt? Besteht ihre/seine Stärke nicht gerade darin, ihre/seine Fremdheit zu bejahen, statt sie zu verleugnen und auf andere zu projizieren?
Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird, als von dem, was aus ihm wachsen musste, vom großen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und der großen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurück giebt […] er muss einst kommen. 33
Vielleicht bedeutet Stärke für Nietzsche, sich im Sinne eines Pathos der Distanz der verlockenden Ansteckung des gleichmachenden, mimetischen Begehrens zu widersetzen, sich in seiner Andersheit zu bejahen und so vor Ressentiment-Gefühlen gefeit zu sein?
Die unumschränkte Bejahung aller vergangenen Ereignisse, die die Einzigartigkeit des Individuums geprägt haben, ist das einzig wirksame Gegenmittel gegen Neid. Denn neidig ist nur, wer sich selbst nicht bejahen kann, sondern sein will wie die anderen.
Das Vergehen der Zeit
Die Erlösung [von der Rache] löst den Widerwillen von seinem Nein und macht ihn frei für ein Ja. Was bejaht dieses Ja? Genau das, was der Widerwille des Rachegeistes verneint: die Zeit, das Vergehen. Dieses Ja zur Zeit ist der Wille, dass das Vergehen bleibe und nicht in die Nichtigkeit herabgesetzt werde. 34
Martin Heidegger spielt hier implizit auf die auffällige Doppeldeutigkeit des Wortes Vergehen an. Es bezeichnet sowohl den zeitlichen Übergang eines Geschehens in den Modus der Gewesenheit, als auch eine unerlaubte Handlung verüben, gegen eine Norm verstoßen, oder jemanden bzw. etwas Schaden zufügen / Gewalt antun. Diese Konnotation des Wortes Vergehen deutet auch auf den von Nietzsche postulierten Widerwillen des Willens gegen das Vergehen der Zeit, sich nicht rückgängig machen zu lassen.
Suche nach Schuldigen
Zwar scheint das Ressentiment aus individueller Perspektive das Potenzial zu haben, Unrecht aufzudecken. Doch die Affekte, die im Ressentiment wirken, sind, so Nietzsche, im Ungleichgewicht. Deshalb führt das Ressentiment meist zu einer ungerechten Bestrafung, die – durch die Verzögerung und Verschiebung der affektiven Reaktion – oft sogar noch die Falschen trifft. Es fehlt dem/der Ressentiment-geplagten der klare, unparteiische Blick, der für ein gerechtes Urteil unentbehrlich ist. Vielmehr hat die Rachsucht die Tendenz, den Gegner zu dämonisieren.
Wir wissen, dass das Ressentiment nach einem Nicht-Selbst sucht, an dem es sich auslassen kann. Diese Neigung des Ressentiments, nach außen zu schauen, geht jedoch einher mit der komplementären Unfähigkeit, nach innen zu blicken und die Ursachen des eigenen Leidens in uns selbst zu suchen. […] Es [das Ressentiment] ist ein Auge, das nach außen schielt und in der Regel blind für das Innere ist. 35
Je intensiver der Wunsch nach Rache ist, desto zufälliger ist die Interpretation einer als Provokation empfundenen Situation. Ein Ressentiment kann selbst dann entstehen, wenn vom objektiven Standpunkt aus gar kein Unrecht geschehen ist. Es ist dem Ressentiment gerade eigen, dass es unfähig ist, zu erkennen, ob derjenige, der für schuldig gehalten wird, wirklich die Intention hatte, zu verletzen. Unterscheidungen wie absichtlich, fahrlässig und zufällig, seien in der menschlichen Entwicklungsgeschichte viel später entstanden als die primitive Psychologie des Ressentiments.
Randbemerkung: Schuld als moralische Verantwortung des Individuums?
Nicht nur gelten, je nach Kultur, unterschiedliche Vergehen als schwere Verbrechen. Es werden auch nicht in jeder Kultur Vergehen moralisch als persönliche Schuld betrachtet. Denn das Kollektiv spielt in den meisten, nicht-europäischen Gesellschaften eine größere Rolle, als in den westlichen, hoch-individualisierten Gesellschaften. Nicht einmal die Tatsache, dass Strafe dem Schuldigen zwangsläufig Leid (in Form einer Gefängnisstrafe) zuzufügen hat, muss als selbstverständlich hingenommen werden.
In der zweiten Abhandlung der Genealogie der Moral ist Nietzsche womöglich der erste Autor, der die Selbstverständlichkeit, dass Strafen eine Zufügung von Leid ist, in Frage stellt: Woher diese uralte, tiefgewurzelte, vielleicht jetzt nicht mehr ausrottbare Idee ihre Macht genommen hat, die Idee einer Äquivalenz von Schaden und Schmerz?, fragt er. Und seine Antwort ist immer wieder überraschend: In dem Vertragsverhältnis von Gläubiger und Schuldner, das so alt ist wie es überhaupt Rechtssubjekte giebt. […] [Aber] warum bringt die Bestrafung einer Zahlungsunfähigkeit die Zufügung von Leid mit sich? Warum wird überhaupt eine Äquivalenz zwischen beiden hergestellt? 36
Wie Didier Fassin in Der Wille zum Strafen herausgearbeitet hat, steckt in unserem heutigen Rechtssystem ein nicht zu unterschätzender, uneingestandener Anteil jener Vergeltungsmentalität, die jener primitiven Psychologie des Ressentiments geschuldet ist, von der Nietzsche spricht. Darüber hinaus verschleiert gerade die Individualisierung von Verbrechen die Verantwortung der Gesellschaft, indem sie alle Schuld der Verantwortung einzelner Individuen aufbürdet, deren Leben sie durch die Gefängnisstrafe nachhaltig zerstört.
Gerechte Urteile?
Das Ressentiment hat durch seine negative Voreingenommenheit und seine irrational verschobene Suche nach Schuldigen niemals das Potenzial, zu einem gerechten Urteil zu führen. Es treibt, so Nietzsche, vielmehr das Blut in die Augen. Es dominiert mit seinen Rachegelüsten die Perspektive und schränkt sie ein. Daher fehlt ihm auch jede Proportionalität in der Reaktion auf gefühlte Provokationen.
Intellektuelle Gerechtigkeit bedeutet für Nietzsche hingegen, Situationen aus möglichst vielen und unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, nicht sofort auf Eindrücke zu reagieren und sich mit vorschnellen Urteilen zurückzuhalten. Gerechtigkeit in einem vor- oder nach-moralischen Sinn geht nicht aus Schwäche, Ressentiment oder Reaktivität hervor, sondern setzt Stärke, Aktivität und die Überwindung von Ressentiment-Gefühlen voraus.
Interesselose Anschauung
Gerechtigkeit ist nicht kalt, gleichgültig. Sie erfordert nicht, dass individuelle Gefühle, Empfindungen oder Emotionen ausgeblendet werden. Denn eine so verstandene Objektivität würde den Intellekt kastrieren. Nietzsche weist hier vor allem die Kantische Vorstellung zurück, dass die Objektivität des Erkennens nur durch interesselose Anschauung zu erreichen sei.
Vielmehr bedeutet Objektivität für Nietzsche das Vermögen, Für und Wider zu beherrschen, sodass man sich gerade die Verschiedenheit der Perspektiven und der Affekt-Interpretationen für die Erkenntnis nutzbar zu machen weiß. […] Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches Erkennen. Und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Wort kommen lassen, je mehr Augen, verschiedene Augen wir für diese selbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser Begriff dieser Sache, unsere Objektivität sein. 37
Ausgleich der Gefühle bei Nietzsche
Wer von Neid oder Hass zerfressen ist, der wird meist von einem einzigen Affekt dominiert. Diese Monopolisierung der wirkenden Kräfte muss durch andere Perspektiven und Affekte kompensiert werden.
Da […] unsere Perspektiven durch Instinkte oder Triebe geboren werden, präsentieren diese uns ihr Objekt üblicherweise unter einer bestimmten Einschätzung: als zu vermeiden oder zu verfolgen, zu bekräftigen oder zu verurteilen, usw. […] Für oder gegen etwas zu sein, bedeutet, unter der Herrschaft einer bestimmten Perspektive zu stehen: Jede entschlossene Parteinahme drückt einen begrenzten Horizont aus, jedes Für und Wider ist ungerecht. 38
Intellektuelle Gerechtigkeit setzt daher eine aktive Haltung voraus: das Bemühen, keinem Affekt die Absolut-Herrschaft zu überlassen.
Der Gerechte muss sich oft zwingen, bestimmte Affekte, die ihm/ihr das Blut in die Augen treiben, zurückzudrängen oder durch andere Affekte auszugleichen.
Ausgleich der Gefühle bei Patanjali
Zu vorschnellen Urteilen kommt es, wenn der Verstand als Funktion des Überlebenstriebes Situationen schnell einschätzt, weshalb er Fremdes auf Bekanntes reduziert und Ähnliches als Gleiches behandelt. Aus diesem Grund wird Abhinivesha (der Überlebenstrieb) von Patañjali als Klesha (emotionales Hindernis) betrachtet. Unter Patanjalis Yoga-Sutren bezieht sich ein Sutra direkt auf den Umgang mit einseitigen, ressentimentalen Gefühlen:
maitri-karuna-mudito-pekshanam sukha duhkha puniya-apuniya vishayanam bhavana-tascitta-prasadanam (Sutra I,33)
Der Geist wird ruhig, indem er eine Haltung der Freundlichkeit gegenüber den Glücklichen, des Mitgefühls gegenüber den Elenden, der Freude gegenüber den Tugendhaften und der Gleichgültigkeit gegenüber den Bösen kultiviert. 39
Patañjali empfiehlt, ein mit Abneigung verbundenes Gefühl immer mit seinem Gegengefühl auszugleichen. So kann etwa Neid gegenüber Glücklichen mit gönnender Freundlichkeit neutralisiert werden; Herablassung oder Schadenfreude gegenüber Unglücklichen durch Mitgefühl; Statusneid gegenüber Mutigen durch Freude über ihre Kraft, Hindernisse zu überwinden; und Rache oder moralische Entrüstung gegenüber Widersachern durch Gelassenheit. So kehrt mentale Ruhe ein und die Gedanken kreisen nicht ewig um kränkende Ereignisse.
Widerstand des Verhandlungspartners
Die Fähigkeit, andere Perspektiven einzunehmen hat der Mensch, so Nietzsche, schon sehr früh in der Menschheitsgeschichte errungen. Das Verhandeln um den Preis einer Ware ist die Grundlage der Vorstellung, dass alles seinen Preis hat. Der Widerstand des Verhandlungspartners gegen die eigenen Wünsche führt zur Erfahrung, dass die Erwartungen anderer nicht immer mit den eigenen übereinstimmen müssen. Will man in einer Gemeinschaft die eigenen Wünsche durchsetzen, so muss man daher auch auf die Vorstellungen anderer eingehen.
Die Erfahrung des Widerstands einer anderen Person gegen das eigene Angebot in einer Käufer-Verkäufer-Situation fördert (wenn auch nur bis zu einem gewissen Grad) die Fähigkeit, den Standpunkt des anderen einzunehmen, die Perspektive des anderen zu übernehmen. Sie erweitert also den eigenen Verstand, wodurch die Fähigkeit entsteht, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel als dem eigenen zu sehen. 40
Ist man solchen Verhandlungssituationen immer wieder ausgesetzt, lernt man allmählich, sich in die Lage eines anderen hineinzuversetzen und die Wünsche und Vorstellungen der anderen zu antizipieren. So entwickelt sich ein Gespür für die Proportionalität des Austausches sowie für die Angemessenheit von strafenden Reaktionen.
Erweiterung des Horizontes
Je größer die Fähigkeit wird, die eigene Perspektive zu erweitern, desto höher kann sich der Intellekt entwickeln und desto gerechter werden dessen Urteile. Die auf Gerechtigkeit bedachte Einstellung erfordert die schonungslose Überprüfung einengender Überzeugungen und voreingenommener Meinungen, sowie die Aufdeckung reaktiver Gefühle.
Indem der Gerechte seinen Horizont erweitert und immer neue Perspektiven einnimmt, kann er/sie die automatischen, vereinfachenden Schematisierungen des Hausverstandes überwinden. Auf diese Weise kann er/sie der Einzigartigkeit des betrachteten Gegenstandes gerecht werden.
Nur die Liebe soll richten (Die schaffende Liebe, die sich selbst über ihren Werken vergisst). 41
Überfülle an Macht: Wertschätzung
Der Gerechte im Sinne Nietzsches genießt eine Überfülle an Macht, kann großzügig über diese Macht verfügen und ist deshalb in der Lage, anderen wertschätzend zu begegnen.
Mohandas Karamchand Gandhi betrachtete Wertschätzung – neben Respekt, Verständnis, Akzeptanz und Mitgefühl – als eine der fünf Säulen der Gewaltlosigkeit. Sie ist der Gegenpol zur Abwertung, die das Ressentiment kennzeichnet.
Wertschätzung wirkt sehr tief in uns nach und kann im Leben eines jeden von uns eine gravierende Veränderung bewirken. […] Es lässt sich immer etwas finden, das man beklagen und kritisieren und als falsch anprangern kann. Viel mehr Freude bringt es aber, wenn man die Entscheidung trifft, nach dem zu suchen, was man wertschätzen kann. […] Wir tun uns Gewalt an, wenn wir uns auf das konzentrieren, was wir nicht haben, was uns fehlt, anstatt zu schätzen, was uns geschenkt wurde. 42
Das mimetische Gehirn
Jean-Michel Oughourlian, ein Schüler von René Girard, hat dessen mimetische Perspektive zu einer mimetischen, Interdividuellen Psychologie weiter entwickelt. Der Begriff interdividuell soll die Ausrichtung dieser Psychologie auf die aktuellen mimetischen Wechselbeziehungen des Individuums mit seinen Modellen und Vorbildern betonen.
Oughourlian unterscheidet drei Gehirne, die im Rahmen einer Therapie auf die je eigene Weise angesprochen werden müssen. Er unterscheidet das rationale, das emotionale und das mimetische Gehirn.
Spiegelneuronen
Diese Klassifikation ist eine funktionale, ihr entsprechen keine getrennten physischen Entitäten im menschlichen Gehirn. Die Bereiche die für jede dieser Funktionen zusammenspielen sind im Gehirn verteilt und stehen in komplexer Wechselwirkung miteinander. Die für das mimetische Gehirn wichtigsten Elemente sind die Spiegelneuronen.
Sogenannte Spiegelneuronen […] sind anatomisch ein Teil sowohl des rationalen als auch des emotionalen Gehirns, aber die Beziehungen, die sie zu den Gehirnen anderer Menschen herstellen können, haben eine solche Bedeutung und eine solche psychologische Realität, dass diese mimetische Interdividualität […] es meiner Ansicht nach verdient, als mimetisches Gehirn oder drittes Gehirn bezeichnet zu werden. […] Diese relationale Funktion – die im Wesentlichen imitierend ist – ist die treibende Kraft der emotionalen und kognitiven Funktionen. 43
Interdividuelle Psychologie
Nicht nur die Fähigkeit zu Lernen und der Spracherwerb beruhen auf dieser mimetischen Funktion des Gehirns. Auch das Vermögen zur Einfühlung und zur Einnahme der Perspektive eines anderen, die für friedfertige soziale Interaktionen so wichtig sind, verdanken sich dem mimetischen Gehirn.
Die mimetische Psychologie bezieht sich dementsprechend nicht isoliert auf individuelle Symptome. Sie beschäftigt sich auch nicht mit deren Entstehung in der frühesten Kindheit des Individuums. Vielmehr richtet sie die Aufmerksamkeit auf die mimetischen Beziehungen des Individuums in der Gegenwart. Oft ist in einer Beziehung nicht der eine oder andere krank, sondern das Verhältnis, das die beiden zueinander einnehmen.
Das Begehren des Anderen
Begehren ist, so Jean-Michel Oughourlian, immer das Begehren des Anderen. Es wird im mimetischen Prozess, wie von Rene Girard beschrieben, übernommen. Sobald ein Mitglied der Gruppe etwas Ungewöhnliches bemerkt, wandern die Blicke der anderen in dieselbe Richtung. Auf dieselbe Weise macht uns das Begehren eines Anderen, oft erst auf etwas oder jemanden aufmerksam. Es lässt ihn oder sie gerade durch diesen Hinweis erst begehrenswert erscheinen. Durch mimetische Ansteckung entsteht so ein Gefühl der Zugehörigkeit zur Gruppe. Gleichzeitig werden dadurch aber auch Eifersucht und Neid innerhalb der Gruppe geschürt.
Ambivalente Mischung
Begehren ist daher in veränderlichem Maße immer eine ambivalent komplexe Mischung. Es vereint Anziehung, Zuneigung, Bewunderung, Liebe auf der einen Seite und Rivalität, Abstoßung und Aggressivität auf der anderen Seite. Letztere kann in Hass und Gewalt ausarten.
Begehren führt uns dazu, die Gesellschaft anderer zu suchen, ihre Zustimmung, ihre Freundschaft, ihre Unterstützung und ihre Anerkennung. Es kann aber auch von Rivalität und Hass begleitet sein; Begehren kann sowohl Liebe als auch Gewalt wecken. Es kann unser größter Verbündeter, aber auch unser schlimmster Feind sein. Begehren treibt uns dazu, uns das zu wünschen, was uns zerstören wird, dem nachzujagen, was uns Leid zufügt, während wir unfähig bleiben, herauszufinden, weshalb es geschieht. 44
Vom Modell zum Rivalen?
Modell ist der oder diejenige, von dem das Individuum das Begehren übernimmt, und dessen Sein oder Haben es begehrt. Dieses Vorbild kann im Laufe einer interdividuellen Beziehung zum Rivalen oder zum Hindernis werden. In extremen Fällen kann mimetische Rivalität sogar zu einer unfreiwilligen, unbewussten Identifikation mit dem Modell oder gar zu Mord führen.
Die verzweifelte Forderung des Vorrang des eigenen Begehrens, gegenüber dem des Rivalen wird eine zunehmende Verschärfung der Gewalt mit sich bringen […]: meine Gewalt, der Ausdruck meines Begehrens, wird gut sein; die Gewalt meines Rivalen, der Ausdruck seines Begehrens, wird böse sein. Einzelne und Völker werden alle im Namen des Guten kämpfen; sie alle werden versuchen, den Willen Gottes zu erfüllen (so werden sie denken!), während ihr Rivale, der Vertreter des Bösen, das Böse vertritt. 45
Die Gewalt ist selbst der Gegner
Mohandas Karamchand Gandhi hatte eine Ahnung von dieser Täuschung. Statt das gewalttätige Begehren des Rivalen anzuprangern, betrachtete Gandhi die Gewalt selbst als den Feind, gegen den es zu kämpfen gilt. Die britischen Kolonisatoren waren in seinen Augen nur das Gefäß dieses Bösen.
Während seiner berühmten Fasten-Streiks während der Massaker zwischen Hindus und Muslimen nach der Teilung Indiens, prangerte Gandhi die Gewalt auf beiden Seiten an. Er rief alle auf, das Blutvergießen zu beenden, ohne für eine oder die andere Seite Partei zu ergreifen.
Zurückweisung des Begehrens
Im Normalfall wird die Fremdbestimmung durch das Begehren eines Anderen einfach vergessen, das Individuum ist sich seiner Nachahmung meist nicht bewusst.
Dieses Vergessen ist zwar auch in gesunden mimetischen Beziehungen ein aktives Missverstehen. Das Subjekt gesteht sich gewöhnlich nicht ein, dass sein Begehren nicht originell ist, sondern durch ein anderes Begehren angesteckt wurde. Aber dieses Verkennen bleibt gewöhnlich friedlich und führt nicht zu feindlichen Gefühlen. Wenn aber das Modell selbst das Begehren, das es im Subjekt bewirkt hat, zurückweist, kann dies im Subjekt eine unerträgliche Ambivalenz auslösen. Das Modell kann allmählich zum Rivalen oder sogar zum Hindernis (des eigenen Begehrens) werden.
Das Subjekt ist hin- und hergerissen zwischen zwei gegensätzlichen Gefühlen gegenüber seinem Modell – der unterwürfigsten Verehrung und der intensivsten Bosheit. Das ist die Leidenschaft, die wir Hass nennen. Nur jemand, der uns daran hindert, ein Verlangen zu befriedigen, das er selbst in uns geweckt hat, ist wirklich ein Objekt des Hasses. 46
Todestrieb
Sigmund Freud, prägte – angetrieben von seiner Therapie Kriegs-traumatisierter Soldaten des Ersten Weltkriegs und dem Aufstieg Hitlers in Deutschland sowie als Antwort auf Albert Einsteins Brief – das Konzept des Todestriebs als Ergänzung zu Eros, dem Lebenstrieb. Obwohl diese beiden Triebe Eros und Thanatos normalerweise nicht getrennt auftreten, haben sie entgegengesetzte Ziele:
Eros strebt danach, getrennte Einheiten innerhalb der Gesellschaft zu kombinieren oder zu synthetisieren, indem Einzelpersonen zu Gruppen zusammengeschlossen, aber auch Gruppen im Dienste größerer sozialer und politischer Formen zusammengeführt werden. Thanatos treibt diese Einheiten auseinander und isoliert den Einzelnen. Zu der Bestrebung, die darauf aus ist, eine soziale Bindung herzustellen und aufzubauen, besteht also eine Gegenstrebung, die ebenso leicht versucht, sie auseinanderbringen: Ich liebe dich, ich hasse dich; Ich kann nicht ohne dich leben, ich werde sterben, wenn ich weiterhin mit dir lebe. […] Es gibt eine zerstörerische Kraft, die […] sich an die Liebe bindet – eine, die menschliche Wesen zur Zerstörung und Selbstzerstörung bewegt, einschließlich der Zerstörung dessen, was sie am meisten lieben. 47
Diese Ambivalenz veranschaulicht Oughourlian unter anderem am Beispiel des Verhältnisses Friedrich Nietzsches zu Richard Wagner, das bekanntlich von glühender Verehrung bis zu tiefster Abneigung reichte. Imitierendes Begehren ist immer auch das Begehren, (wie) ein anderer zu sein. Man begehrt nicht (nur) was der andere hat (Reichtum, Talent, Berühmtheit). Das Begehren richtet sich oft darüber hinaus direkt auf sein oder ihr Sein.
Kontinuum der Imitation
Die mimetische Perspektive situiert psychische Erkrankungen in einem Kontinuum, das von der gesündesten Form der Imitation, in der das Modell ein Vorbild bleibt, bis zur pathologischsten, gewalttätigsten Form der Nachahmung reicht, in der das Vorbild zum (zu beseitigenden) Hindernis wird. Vielleicht werden wir dann weniger von Rivalitäten und Sorgen um den eigenen Status besessen sein, wenn wir uns eingestehen, dass unserem Selbst – das durch dieses mimetische Begehren konstituiert wird – diese unheimliche Andersheit und Fremdheit des Begehrens selbst innewohnt.
Wenn wir uns verlieben, staunen wir über uns selbst und sagen uns: Das ist unmöglich, ich bin ein anderer Mensch geworden. […] Wie können wir eine sich so schnellen Vorgang verstehen? Jeder unserer Wünsche, denn es ist der Wunsch, wie der andere zu sein, ist, wie wir gesehen haben, sehr beweglich. Er erzeugt mit jedem Modellwechsel eine andere psychologische Bewegung und damit ein anderes Selbst. […] Wir werden in der Tat ständig modifiziert, geknetet, von Andersartigkeit durchdrungen, dazu gebracht, uns von einem Modell zu lösen, um ein anderes zu übernehmen, in dem wir immer wieder glauben, einen Überfluss des Seins zu sehen, der uns fehlt. 48
Stigmatisierung
Ekel zählt zwar zu den primären Emotionen, kann aber als projektive Abscheu auch zu einer sozialen Emotion werden. Ekel ist in seiner sozialen Ausformung als projektive Abscheu eine Emotion die Hierarchien in der Gesellschaft über Jahrhunderte hinweg aufrechterhalten kann. Er trennt die soziale Welt in bevorzugte und stigmatisierte Gruppen.
Ekelgefühle hängen, so Marta Nussbaum, einerseits mit dem Gedanken einer ansteckenden Verunreinigung zusammen. Andererseits stehen sie mit der Verleugnung der Tatsache in Zusammenhang, dass wir sterbliche Tiere sind, die am Ende verwesen werden.
Im Phänomen des Ekelhaften ist [ein] Lebensplus notwendig enthalten. […]. Auch die Lebensüppigkeit überhaupt trachtet Grenzen zu durchbrechen, alles Umgebende zu durchdringen. Sie steht in schärfsten Gegensatz zu individueller Formung und Abschließung. […] Nicht um ein Aufgreifen, Umarmen, Wesenserleben des fremden Seins handelt es sich, sondern um ein Dahinschmelzen, ein Aufhören – sei es ganz oder teilweise […] – der Sonderwesen. […] Der vollen Intention nach ist es Tod und nicht Leben, was sich uns im Phänomen des Ekelhaften ankündigt. 49
Eingefleischte Feindbilder
Im Ekelgefühl begegnet uns demnach wieder jene Entdifferenzierung, die René Girard als eine der Verfolgungsstereotypen aufgezeigt hat. Es gehört zur Feindbildkonstruktion, diese Eigenschaften hervorzuheben. Eine Gruppe wird mit Ekelhaftem in Verbindung gebracht, ihre Vitalität wird besonders hervorgehoben. So wurde Juden, Muslimen und Afrikanern oft eine übertriebene Sinnlichkeit und ein reges oder gar perverses Sexualleben nachgesagt.
Ekel, der sich auf Menschen richtet, die Minderheiten angehören, deutet daher meist auf die Wirkung einer vererbten Feindbild-Konstruktion hin. Die Zuschreibung von Eigenschaften, die man an sich selbst ablehnt, ruft nur dann Ekelgefühle hervor, wenn diese Zuschreibungen einverleibt wurden. Das heißt wenn sie von Generation zu Generation weitergegeben, und nicht einmal mehr hinterfragt werden.
Ein entscheidendes Merkmal von Herabsetzung ist Abscheu: Menschen in Machtpositionen schreiben anderen Gruppen von Menschen, ob Afroamerikanern, Frauen, niederen Kasten, Juden oder Schwulen, animalische Eigenschaften zu, die in der Regel Abscheu wecken […] dann nehmen sie diese angebliche Ekelhaftigkeit zum Vorwand für die Verweigerung von Kontakt. […] Die diskriminierte Gruppe wird stigmatisiert, um dem inneren Bedürfnis der dominanten Gruppe nach dem Ersatz für ihre eigene Animalität Rechnung zu tragen. 50
Rein und unrein
Nietzsche zufolge, war es die Priester-Kaste, die die Dichotomie von rein und unrein eingeführt hat. Diese Unterscheidung sollte sie von der Kriegerkaste absetzen. Dies trifft auf den Brahmanismus besonders zu:
In ihrer Absicht, sich gegen ihre edlen Konföderierten – die kriegerischen Herren – durchzusetzen, haben die Priester versucht, die Hierarchielinien neu zu ziehen und das Meister-Sklaven-Schema durch das rein-unrein Schema zu ersetzen. In diesem Sinne waren nur diejenigen rein, die der Priesterkaste angehörten, denn sie waren diejenigen, die die materiellen Ressourcen, das zeremonielle Wissen und die Autorität besaßen, um sich rituell zu reinigen (GM I, 6). 51
Kastenlose, die im Brahmanismus an unterster Stufe der Hierarchie stehen, bekommen die Dichotomie von rein und unrein am stärksten zu spüren. Sie wurden, so Prabhati Mukherjee, aus dem Kastensystem ausgeschlossen, weil sie sich von den Ariern nicht unterwerfen lassen wollten. 52
Anderseits wurden sie nachträglich auch durch die ihnen zugewiesenen Aufgaben zu Unreinen schlechthin stigmatisiert. Latrinen- und Straßenreinigung gehörten zu ihre Aufgabenbereich, sowie der Transport- und die Verbrennung von Leichen und die Beseitigung toter Tiere. Deshalb müssen in Abstand zu allem Reinen gehalten werde.
Klebrige Unreinheit
Deshalb durften sie als Unberührbare sich nicht im selben Wasserbecken baden wie Zugehörige der Kasten. Sie durften nicht das Trinkwasser benützen, das allen anderen zur Verfügung stand. Zugehörige des Kastensystems mieden jede Berührung, sogar ihr Schatten galt als verunreinigend. Die Unberührbarkeit wurde zwar abgeschafft, doch das Stigma und der Ekel haben bis heute überlebt.
Dies ist sicher eine der extremsten Formen des Ausschlusses, aber sie zeigt, wie Ekel als Distinktionsgefühl wirken kann. Die Stigmatisierung bleibt selbst dann noch an den Kastenlosen kleben, wenn sie sich in den Wirkungskreis einer anderen Religion begeben. Ihre Ausgrenzung im muslimischen Pakistan und Bangladesh macht dies deutlich. Auch dort werden sie weiterhin für die Drecksarbeit eingesetzt, und als unrein gemieden.
Reduzieren von Ekelgefühlen
Dies zeigt, dass eine Gesellschaft, die starre Hierarchien ablehnt, eine positivere Einstellung zur eigenen Körperlichkeit und Sterblichkeit kultivieren müsste. Eine solche Einstellung ist im Tantrismus zu finden. Die Tantra-Praxis versucht, den Ekel, die Todesfurcht, sowie die Dichotomie von rein und unrein zu überwinden.
Aghoris praktizieren diese tantrische Haltung in extremster Ausprägung. Sie leben und meditieren nackt an Orten, die von den meisten Menschen als schreckenerregend und ekelhaft betrachtet werden. Dort, wo in Varanasi und an anderen heiligen Orten in Indien, Leichen verbrannt werden.
Aghora […] ist die gewaltige Umwandlung von Dunkelheit in Licht, von Undurchsichtigkeit der begrenzten individuellen Persönlichkeit in die Leuchtkraft des Absoluten. […]. Ein Aghori geht so tief in die Dunkelheit hinein, in alles, was für gewöhnliche Sterbliche unvorstellbar ist, dass er ins Licht herauskommt. 53
Aghoris essen aus Totenschädeln, meditieren auf Leichen sitzend. Sie fordern die mächtigsten Dämonen der Leichenverbrennungs-Stätten heraus, um mit ihnen zu verhandeln.
Übersteigerung der Emotionen
Die Tantra-Praxis hebt nicht nur die Dichotomie zwischen rein und unrein auf. Sie lässt auch Emotionen zu, ohne sie zu beurteilt oder gar zu verdrängen.
Anstatt zu versuchen, ihre Emotionen vollständig auszurotten, wie es Praktizierende des Yoga tun, verstärken die Tantriker ihre Emotionen und übertragen sie vollständig auf eine Gottheit, eine personifizierte kosmische Kraft. Alle natürlichen Neigungen des Verehrers [der Gottheit] können sich in dieser Gottheit-Verehrer-Beziehung aufhalten und vermeiden die Unterdrückung jeglichen Wunsches, der später ausbrechen und die Harmonie stören könnte. […]. Yoga und Vedanta zielen direkt auf Mukti ab, was in früheren Zeitaltern, als die weltliche Welt weniger anspruchsvoll war, angemessen war. Tantra ist für die heutige Welt praktischer. 54
Opferung des Ego
Auch Tantrische Rituale sind Opferrituale, doch geopfert wird hier kein Fremder, sondern das limitierte Selbst. Ziel ist Laya, die Rückkehr des Suchenden in die undifferenzierte Existenz. Individuelles und absolutes Bewusstsein (im Tantrismus: Shakti und Shiva) sollen eins werden.
Autorin: Eva Pudill
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