Katharsis

Der Begriff der Katharsis – griechisch: Reinigung – hat seit der Antike unzählige Wandlungen durchlaufen. Die bekannteste Abhandlung über die Katharsis stammt von Aristoteles.

In seiner Poetik schrieb Aristoteles über die kathartische Wirkung der griechischen Tragödie. Die Tragödie bewirke durch Eleos (Mitleid) und Phobos (Furcht), die durch das Schicksal des Helden im Zuschauer ausgelöst werden, eine Katharsis.

Auf diese noch recht vage Aussage konnten sich im Grunde alle Interpreten einigen. Die Poetik war als akromatische Schrift nicht für ein größeres Publikum gedacht, sondern für den Vortrag vor Studenten der philosophischen Schule des Aristoteles. Sie zeichnet sie sich durch schwere Lesbarkeit und Auslassungen aus und lässt deshalb der Deutung einen großen Spielraum offen.

Rituelle Reinigung

Hinzu kommt, dass der Begriff der Katharsis schon weit vor Aristoteles existierte. Denn die von Aristoteles beschriebene, tragische Katharsis hat ihren Ursprung in religiösen und rituellen Reinigungshandlungen.

Man halte sich vor Augen, dass Aristoteles deutlich nach den drei großen Tragikern Aischylos, Sophokles und Euripides lebte, und dass zwischen der Hochzeit der attischen Tragödie im fünften Jahrhundert vor Chr. und den Lebzeiten Aristoteles‘ eine Zeitenwende liegt. […] Es bestehen somit berechtigte Zweifel daran, dass Aristoteles das Wesen der Tragödie unverfälscht wiedergibt. 1

Die Tragödie war zur Zeit ihrer Entstehung ein Teil der Dionysien. Diese rituellen Festspiele zu Ehren des Gottes Dionysus fanden jährlich im antiken Athen statt. Sie entstand aus kultischen Chorgesängen / Dithyramben, aus Satyrspielen, Tanz- und Opferritualen.

Auf den rituellen Charakter der Tragödie verweist auch der Umstand, dass die ersten Tragödien – als einzigartige Opfergaben an den Gott der Wiedergeburt – jeweils nur ein einziges Mal aufgeführt wurden.

Dionysos Kulte

Die Dionysos Kulte haben, so der Dichter und Philologe Vjaceslav Ivanovic Ivanov, eine lange, sich über ganz Griechenland, Thrakien und Kleinasien erstreckende Vorgeschichte.

Frühzeitig findet der namenl se gewaltige Jäger – Zagreus, [ein vor-dionysischer Heros] […], in Böotien und Attika, sowie in anderen griechischen Gegenden und vielleicht auch schon auf den Inseln eine stattliche Gemeinde orgiastischer Anhänger, bis sein Kult als Nebenfluss in den Strom der siegreichen Religion des Dionysos einmündete. 2

Darstellung menschlicher Existenz

In Aristoteles‘ Interpretation und seiner Beschreibung der Wirkungsweise der Tragödie beginnt hingegen dieser religiöse, kultische Deutungszusammenhang schon zu verblassen. Die Theologie wich zu Aristoteles‘ Zeit der Ethik.

Die Tragödie wird zur exemplarischen Darstellung menschlicher Existenz, insofern sich diese in der eigenen, selbstverantwortlichen Tat des Menschen entscheidet. 3

Dennoch lassen sich aus dem Aristotelischen Katharsis-Begriff Rückschlüsse auf den kultischen Ursprung der ‚Reinigung‘ ziehen, die in der Tragödie stattfinden soll.

Mitleid und Furcht

Ein umstrittenes Thema in den Interpretationen der Aristotelischen Poetik war die Frage, wovon die Katharsis den Zuschauer der Tragödie reinigen solle.

Eine in der deutschen Aufklärung und darüber hinaus sehr einflussreiche Interpretation der Aristotelischen Katharsis-Lehre stammte vom Dramatiker Gotthold Ephraim Lessing. Er erklärte Mitleid zum entscheidenden tragischen Affekt und weist der Tragödie einen moralischen Zweck zu. Er sieht die kathartische Wirkung der Tragödie darin, dass sie Mitleid und Furcht auf das rechte Maß beschränke oder hinführe.

Bernaysche Abführungstheorie

Auch eine andere, in der Psychologie des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts sehr einflussreiche Interpretation geht von der Ansicht aus, dass es die Affekte Mitleid und Furcht selbst seien, die durch die Tragödie eine Reinigung erfahren sollen. Die von Kritikern sarkastisch sogenannte Bernaysche Abführungstheorie. Nach Jacob Bernays bewirkt die Katharsis, wie in der homöopathischen Medizin, durch Verstärkung gewisser Affekte eine erleichternde Entladung derselben Affekte.

Pathema und Pathos

Die medizinische Interpretation behält […] das von Lessing […] erkannte homöopathische Prinzip der Katharsis bei, weigerte sich nun aber, die Katharsis als Läuterung anzusehen, statt dessen wird sie als Purgierung, als Ausstoßung eines störenden Stoffes verstanden. […] Die Unterscheidung, die aus seiner Interpretation eine ‚pathologische‘ macht […], ist die von ‚Pathos‘ als ‚Affekt‘ und von ‚Pathema‘ als ‚Affektion‘. Er begreift Affektion als eine einer Person inhärente, chronische Neigung zum Affektausbruch. Affekt dagegen das unerwartet ausbrechende und vorübergehende Phänomen. 4

Jakob Bernays, sowie Henry Weil und Hermann Baumgart sprechen, wie Johann Wolfgang Goethe, der Tragödie jede ethische Wirkung ab:

Die Tragödie ist die Nachahmung einer Handlung, welche durch Mitleid und Furcht an den unvollkommenen Erscheinungen dieser Empfindungen die Läuterung vollzieht. 5

Homöopathische Reinigung?

Doch wie kann die tragische Aktivierung von Mitleid und Furcht diese selbst homöopathisch reinigen?

Henry Weil hatte parallel zu Jakob Bernays eine ähnliche, aber weit weniger einflussreiche Affektabfuhrtheorie aufgestellt. Er war der erste der modernen Interpreten, der erwog, dass es sich in der Tragödie nicht (nur) um die Reinigung der ‚Affekte‘ Mitleid und Furcht selbst, sondern um die Reinigung des Menschen durch Mitleid und Furcht handeln könnte.

Es lässt sich grammatisch gewiss nichts dagegen einwenden, dass Pathematon [die beiden, auf die Zuschauer wirkenden Affekte Mitleid und Furcht] ebenso gut Genitiv subjectivus als Genitiv objectivus sein könne. 6

Der Genitiv subjectivus bezeichnet den Urheber einer Handlung: in diesem Fall wären Mitleid und Furcht die Ursache für etwas anderes. Die Funktion des Genitivs lässt sich im Griechischen nur durch den Kontext erschließen. Da der Kontext in diesem Fall aber selbst nicht feststeht, lässt sich nur durch andere Indizien ermitteln, worauf sich die kathartische Wirkung von Mitleid und Furcht beziehen könnte. Pathema ist, so P. Manns, die Ursache eines Pathos (eines Leides bzw. Affektes). Pathema ist das Verändernde, Pathos das Veränderte oder Veränderliche.

Korybanten Manie

In der Politeia (VIII. 7) erklärt Aristoteles, wie die KorybantenManie oder bacchische Raserei mit ekstatischen, leidenschaftlichen Flöten-Melodien gemildert werden könne. Dionysos wurde schließlich schon vor der Geburt der Tragödie als Hiatros kai Katharsios, der durch Enthusiasmus Reinigende, verehrt. Die ersten Schauspieler wurden Tragoi (Böcke) genannt, wie die orgiastischen Diener des Dionysos, über die Aristoteles in der Politeia spricht. Dies zeigt, dass die Tragödie direkt aus dem Dionysos-Kult entstanden ist.

Allopathische Reinigung?

Aristoteles Erklärung der musikalischen Katharsis führte zu der Auffassung, dass die Katharsis in der Tragödie wie in der homöopathischen Medizin vor sich gehe. Doch sie kann, so P. Manns, auch genau entgegengesetzt interpretiert werden: nicht homöopathisch, sondern allopathisch.

Platon vergleicht die Heilung der Korybanten mit dem Vorgehen der Ammen, wenn Kinder nicht schlafen können. Diese begleiten die Kinder nicht durch Ruhe und Schweigen in den Schlaf. Vielmehr wiegen sie sie in ihren Armen und singen ihnen eine Melodie vor.

Er [Platon] führt beide Gemüthserregungen auf Furchtempfindungen […] zurück und erklärt: Wenn man nun diese von außen einen Stoß versetzt, so siegt die von außen bewirkte [gleichmäßige] Bewegung über die innere furchtsame und wahnsinnige ob und führt so Ruhe herbei, sodass die einen Schlaf finden, die anderen aber, die Wachenden, unter Tanz und Flötenspiel mithilfe der Götter, denen sie ihre Verehrung darbrachten, aus der wahnsinnigen Stimmung in einen vernünftigen Zustand gerathen. 7

Rhythmus

So wird eine Bewegung durch eine andere, jedoch von ihr ganz verschiedene Bewegung, ausgeglichen und zur Ruhe gebracht. Der ungeordneten, regellosen Bewegung wird eine geordnete, regelmäßige (das Wiegen oder der Rhythmus der Melodie) entgegengesetzt. Die ausgeglichene Mitte zwischen den Gegensätzen bewirkt dann schließlich die Ruhe.

Wenn im Drama die Mittel der Katharsis Mitleid und Furcht sind, wirken diese, so P. Manns, auf die ihnen entgegengesetzten Pathe ausgleichend. Sie wirken auf Selbstsucht und Hochmut, die im Bund von den Griechen als Hybris (Anmaßung, Selbstüberschätzung) bezeichnet wurden.

Selbstüberschätzung

Die ernste, ergreifende Handlung der Tragödie – das Leid des tragischen Helden – soll Mitleid im Zuschauer auslösen. Sie soll aber auch über den Theaterabend hinaus das Herz des Zuschauers der leidenden Menschheit zuwenden (P. Manns), und ihn/sie von egoistischen Strebungen reinigen.

Die Furcht, die der Zuschauer angesichts des schrecklichen Schicksals empfindet, das dem Helden droht, soll ihn an die Fragilität seines eigenen Schicksals erinnern. Sie wirkt damit – so die antike Vorstellung – dem Stolz und der Überheblichkeit entgegen.

Platon: Verweichlichung durch Mitleid?

Platon wirft der Tragödie vor, dass sie durch die Erregung eines Übermaßes von Mitleid und Furcht den Menschen verweichliche. Doch er übersieht dabei, dass diese übertriebene pathetische Erregung notwendig ist, um dem Egoismus eine ähnliche Intensität entgegenzuhalten.

Diese Thränen des Mitleids und der Furcht entnerven nicht, sie machen nur milder und besonnener im Handeln, und die Erregung der Affecte muss eben eine potenzierte sein, damit die Wirkung auch für das Leben außerhalb des Theaters nachhaltig und wohltätig sein könne, damit sich der Zuschauer nicht, wie Goethe will, ebenso lieblos in seiner Wohnung wiederfinde, als er sie verlassen hat. 8

Hedone

Die Wirkung dieses Kampfes der gegensätzlichen Affekte ist Tugend, die Nebenwirkung Hedone (Freude). Damit diese Wirkungen entstehen, muss die Handlung der Tragödie einen konsistenten Aufbau haben. Der Zuschauer empfindet Mitleid und Furcht nur dann, wenn die Ereignisse zwar unerwartet eintreffen, aber doch folgerichtig auseinander hervorgehen.

Peripetie und Anagnorisis

Die Wende (vom Glück ins Unglück) kann entweder mit oder ohne Peripetie (Wandlung) oder Anagnorisis (Wiedererkennung) eintreten [wenn Jokaste Ödipus als ihren Sohn erkennt und er sie als seine Mutter]. Peripetie bedeutet, dass eine Handlungsabsicht in ihr Gegenteil verkehrt wird, zum Beispiel eine als helfend intendierte Tat, die eine Katastrophe auslöst. 9

Der tragische Charakter

Aristoteles beschreibt nicht nur genau, wie die Handlung der Tragödie aufgebaut sein muss, um die Zuschauer affektiv zu fesseln. Er führt auch genau aus, welche Charakterzüge die Helden haben müssen, damit die Zuschauer mit ihnen mitleiden und sich um sie fürchten können.

Die Charaktere einer Tragödie dürfen nicht zu makellos erscheinen, denn ihr tragisches Schicksal würde sonst ungerechtfertigt erscheinen. Es würde nicht Mitleid, sondern völlige Entmutigung oder Entrüstung, ja Entsetzen im Zuschauer bewirken. Sie dürfen aber auch nicht zu verdorben sein, da sie sonst gar kein Mitleid erwecken würden.

So erwächst aus der Katharsis-Lehre selbst die Forderung der tragischen Schuld mit logischer Strenge. 10

Aristoteles‘ weniger bekannte Lehre von der Hamartia (der tragischen Schuld), ist eine direkte Konsequenz seiner Katharsis-Lehre. Wie entsteht nun diese tragische Schuld?

Ungeschriebene Gesetze

Die Verfehlung des tragischen Charakters liegt nicht in einer greifbaren Gesetzesübertretung, sondern in einer gewissen Blindheit gegenüber den ungeschriebenen Gesetzen.

Epieikes bedeutet im Griechischen: nicht auf den Buchstaben des Gesetzes zu sehen, sondern auf dessen Sinn; nicht auf die Handlung selbst, sondern auf die hinter dieser Handlung stehende Absicht; nicht auf die einzelne Tat, sondern auf den Handlungszusammenhang. Das Gemeinwohl steht im Brennpunkt der ungeschriebenen Gesetze (Eikos). Tragische Helden geraten nun gerade deshalb ins Unglück, weil sie aus triftigen Gründen gegen diese ungeschriebenen Gesetze handeln. Durch Verkennung der Situation und in der Meinung, recht zu handeln verstoßen die Helden der Tragödie gegen Eikos.

Tragische Schuld

Der unglückliche Ausgang der Tragödie muss den Zuschauern unverdient erscheinen, damit sie sich mit dem tragischen Charakter identifizieren können. Hamartia (die tragische Schuld) entsteht also aus Handlungen, die in einem Zustand der Verblendung begangen werden. Der Held, die Heldin übersehen in diesem Zustand warnende Zeichen oder ignorieren wesentliche Aspekte des ungeschrieben Gesetzes. Durch ihre Maßlosigkeit bringen die verblendeten tragischen Heroen die Ordnung des sozialen Gefüges ins Wanken.

Verblendung

Für die Griechen ist es generell Verblendung, was als Beginn der Ereigniskette gesehen wird, welche dann in Selbstschädigung und Schädigung anderer resultiert. Verblendung bedeutet dabei immer eine Beeinträchtigung des Vernunftorgans, des Phrenes. 11

Im Zustand der Verblendung wird der Mensch unfähig, eine Situation richtig einzuschätzen und entsprechend zu handeln. Während in den mythologischen Erzählungen, etwa der Ilias, noch göttliche Willkür als Ursache der Verblendung gilt, tritt später – im Laufe der Versittlichung der Griechischen Religion – Selbstverschulden an dessen Stelle.

Diese Störung der Ordnung, die durch das verblendete Handeln der tragischen Charaktere entsteht, wird, so Daniel Hug, als Verunreinigung betrachtet. Diese muss durch das tragische Schicksal als Ausgleichsgeschehen gesühnt werden, sodass die Situation bereinigt werden kann.

Zwangsreinigung

Aus Verblendung gerät die Heldin in eine Situation, in der sie einen schicksalhaften Fehler begeht. So lädt sie Hamartia auf sich. Von dieser tragischen Schuld wird sie im Laufe der Tragödie durch ihr tragisches Ende zwangsgereinigt.

Die tragische Schuld muss nicht auf die Titelrolle beschränkt sein. Auch Nebenfiguren können in sie verwickelt werden. Die Katharsis geschieht demnach nicht nur im Zuschauer, sondern schon auf der Bühne, im tragischen Charakter. Auf dem Höhepunkt der Handlung – kurz vor seinem Untergang – erkennt dieser seine Verblendung. Die tragische Katharsis kann folglich auch als pathetische, emotionale und existenzielle Erkenntnis beschrieben werden.

Sich ergreifen lassen

Der [Tragödie-spezifische] Rezeptions-Vorgang gewinnt eine affektive Bedeutung durch die Fähigkeit und Bereitschaft des Rezipienten, sich vom Leiden des tragischen Helden ergreifen zu lassen. Die empfundene Ähnlichkeit mit diesem führt dazu, dass die im Held erkannten Leiden als die eigene Person bedrohend wahrgenommen werden. […] Ein Teil seiner [eigenen] Verblendung wird dem Rezipienten enthüllt und er erschrickt in Ahnung des Schadens, den seine verblendete Handlung für ihn bewirkt. 12

Katharmos

Der Begriff der Katharsis lässt sich etymologisch auf die rituelle Reinigung durch das Sühneopfer (Katharmos) zurückführen. Doch welche Form und Funktion hatte das Opfer im Ritual?

René Girard stellt in Das Heilige und die Gewalt eine gewagte These auf, die für moderne Verfechter der gewaltlosen Haltung nur schwer zu verdauen ist. Er behauptet, dass Opferrituale Wiederholungen eines im Mythos verewigten Lynchmordes sind, in dessen Folge in der Gemeinschaft wieder Ordnung eingekehrt ist.

Ritualopfer

Die Ursprungsgewalt ist einmalig und spontan. Die Ritualopfer hingegen sind vielfältig, sie werden bis zum Überdruss wiederholt. Alles, was sich in der Gründungsgewalt entzieht – Ort und Zeit der Opferung, Auswahl der Opfer, das legen die Menschen selbst in der Opferung fest. Die Riten haben die Tendenz, alles zu regulieren, was sich der Regel entzieht. 13

Der Opferritus sollte die archaische Gemeinschaft vor der, durch gegenseitige Rache-Fehden überhand nehmenden Gewalt schützen.

Die erste spontane Opferung eines Sündenbockes wird im Gründungsmythos oft als Tötung eines mythischen Geschöpfes dargestellt. Die Zerreißung des Dionysos durch die Titanen wäre etwa eine solche mythisch verschleierte gewaltsame Gründungs-Tat. Diese mythische Opferung wird nicht nur als Gründungsakt der kulturellen Ordnung betrachtet, sondern auch als Quelle aller Fruchtbarkeit.

Einigung durch das Opfer

Die religiöse und einmütige Gewalt gegen ein Opfer, soll die Mitglieder der Gemeinschaft einigen, versöhnen und von der Gewalt reinigen. Das Religiöse entmenschlicht die Gewalt und befreit den Menschen insofern von ihr. Er macht eine transzendente Bedrohung aus ihr, die durch Rituale abgewendet werden kann.

Weil wir die Gefahr der Rache herunterspielen, wissen wir nicht, wozu das Opfer dienen könnte. Wir überlegen uns nie, wie Gesellschaften ohne Strafrecht eine Gewalttätigkeit im Zaum halten, die von uns gar nicht mehr wahrgenommen wird. Unsere Verkennung bildet ein geschlossenes System. Nichts kann sie widerlegen. Wir brauchen das Religiöse nicht, um ein Problem zu lösen, von dem wir nicht einmal wissen, dass es existiert. 14

Das Sühneopfer diente also eigentlich der vorbeugenden Versöhnung. Mit dem Katharmos reinigte man sich von der Gewalt, wenn man mit ihr in Berührung kam. Damit wollte man, so Girard, verhindern, dass sie sich in der gesamten Gemeinschaft verbreite und die Ordnung des Friedens gefährde.

Affekt-Gemeinschaft

Der Anthropologe Victor Turner spricht von der Communitas, die durch das Ritual entsteht. Die Ritual-Gemeinschaft löst für kurze Zeit alle Unterschiede zwischen den Beteiligten auf. Diese Auflösung aller Unterschiede in der liminalen Schwellenphase des Rituals ist, so Rene Girard, die rituelle Nachahmung der Opferkultkrise. Es ist die rituelle Reinszenierung der Entdifferenzierung, die zum ersten mythischen Opfer geführt hat. Denn in Zeiten, in denen – etwa während eines Bürgerkrieges – tatsächlich die Gewalt überhandnimmt, werden alle kulturellen Unterschiede unwichtig.

Rache

Der gewaltsame Tod durch Rache macht, wie eine Seuche, vor niemand Halt, und macht dadurch alle kulturellen Unterschiede zunichte. Geopfert wird im Ritual, so Rene Girard, nicht wie offiziell behauptet, einer Gottheit. Vielmehr hat die Opferung die Funktion, die potenzielle Gewalt zu kanalisieren und die Unterschiede und mit ihnen die Ordnung, wiederherzustellen.

Das Opfer […] tritt an die Stelle aller Mitglieder der Gesellschaft und wird zugleich allen Mitgliedern der Gesellschaft von allen ihren Mitgliedern dargebracht. […] [Es] schützt die ganze Gemeinschaft von ihrer eigenen Gewalt, es lenkt die ganze Gemeinschaft auf andere Opfer außerhalb ihrer selbst. Die Opferung zieht die überall vorhandenen Ansätze zur Zwistigkeit auf das Opfer und zerstreut sie zugleich, indem sie sie teilweise beschwichtigt. 15

Das Heilige als Drohung

Aus unzähligen Mythen und Ritualen auf der ganzen Welt wird deutlich, dass das Heilige nicht nur Heil bringend ist. Es birgt auch Unheil in sich, nämlich die Drohung der unkontrollierten Gewalt. Das Heilige stellt eine Gefahr dar, der man nicht ungestraft in die Augen blickt. Es hat deshalb immer ein Janus-Gesicht: Es ist Heilbringendes Unheil. Gewalt sowie alles, was mit ihr in Verbindung steht – Blut, Tod, Verwesung, heimkehrende Krieger, jede Verbindung mit dem Totenreich – galt als ansteckend und musste deshalb rituell gereinigt werden.

Ansteckungsgefahr

Gewalt galt in Gesellschaften, die noch kein unabhängiges Gerichtswesen hatten, zu Recht als ansteckend. Denn es konnte erwartet werden, dass jeder Gewaltakt von der Sippe des Ermordeten gerächt werden würde.

Die Verpflichtung, kein Blut zu vergießen, ist nicht eigentlich von der Verpflichtung, vergossenes Blut zu rächen, zu trennen. Um also der Rache ein Ende zu setzen, um heute Kriegen ein Ende zu setzen, genügt es nicht, die Menschen von der Verabscheuungswürdigkeit der Gewalt zu überzeugen; gerade weil sie davon überzeugt sind, machen sie sich zur Pflicht, Gewalt zu rächen. 16

Der von Gewalt Verunreinigte (in eine potenzielle Blutrache Verwickelte), war tabu, musste wie bei einer Seuche evakuiert werden. Denn sonst würde seine Gewalt einen kollektiven Rache-Rausch in der Gemeinschaft auslösen.

Pharmakon: Gift und Heilmittel

Durch ein Opfer konnte die Gefahr der Ansteckung gebannt und die friedliche Ordnung wiederhergestellt werden. Doch dieses Opfer durfte nicht aus der Gemeinschaft stammen, da es sonst von seinen Angehörigen gerächt werden müsste. Pharmakon bedeutet im Griechischen sowohl Gift und Übel als auch Gegengift und Heilmittel. Das Opfer wurde zum Heilmittel gegen die Ansteckungsgefahr, die von der Gewalt ausging.

Der durch Gewalt Tabuisierte

Pharmakos bezeichnete den durch Gewalt Tabuisierten: den gewöhnlichen Mörder, Randständigen, Fremden. Doch auch der Opfernde selbst durfte nach der Opferung nicht berührt werden. Er wurde entweder zeitweilig verbannt oder durfte den Tempel nicht verlassen.

Denn, dem Gewalttätigen Gewalt antun hieße, sich von der Gewalt anstecken zu lassen. Deshalb wurden der Pharmakon in eine Lage gebracht, die er nicht überleben konnte. Nur er selbst durfte für seinen Tod verantwortlich sein. Man setzte ihn auf offenem Meer oder auf dem Gipfel eines Berges aus; zwang ihn, sich von einer Klippe herabzustürzen oder setzte ihn den wilden Tieren aus.

In einer Welt, in der der geringste Konflikt, ähnlich einer kleinen Verletzung bei einem Bluter, verheerende Folgen haben kann, führt die Opferung die aggressiven Tendenzen auf wirkliche oder gedachte, belebte oder unbelebte Opfer ab, von denen nie angenommen werden muss, sie könnten je gerächt werden, und die auf der Ebene der Rache ausnahmslos neutral und steril sind. […] Das Opfer verhindert, dass sich der Keim der Gewalt entwickelt. 17

Sühne-Ochse

Tieropfer wurden meist dadurch sakralisiert, dass die Tiere in Vorbereitung der Opferung die gleiche Behandlung erfuhren wie die Pharmakoi. Sie wurden, nachdem sie aus der Herde ausgesondert und gemästet worden waren, in der ganzen Stadt herumgeführt. Von Passanten geschlagen, beschimpft und verspottet, sollten sie die Gewalt der Gemeinschaft wie ein Schwamm aufsaugen, bevor sie geopfert wurden.

Durch ihren Tod sollten sie die gefährlich ansteckende Gewalt in Frieden und Fruchtbarkeit umwandeln, und so die Gemeinschaft rituell reinigen. Die für den Ritus zuständigen Priester und Priesterinnen waren allein einem Gott oder einer Göttin geweiht. Sie gehörten entweder allen oder Keinem.

Apathische und pathische Götter

Zwischen den rituellen Bereichen der Olympischen, apathischen himmlischen und der pathischen, chthonischen Götter gab es eine strikte Trennung. Diese Absonderung hatte ihren Grund ebenfalls in der ‚Unreinheit‘ all dessen, was mit dem Tod in Zusammenhang steht.

Das religiöse Ritual kann als Ursprung des Dramas betrachtet werden, da es einen Mythos ‚zur Aufführung‘ bringt.

Sowohl künstlerische als auch rituelle Aufführungen gehen aus sorgfältigen Inszenierungen hervor, beide können mit Skriptvorlagen und Proben arbeiten ebenso wie mit Improvisationen, beide vermögen, Wirklichkeit zu konstituieren, und ihr Publikum auch zu unterhalten; beide sehen für Akteure wie Zuschauer die Möglichkeit vor, ihre Rolle zu verändern. 18

Anti-Ritual

Dennoch hat schon die erste griechische Tragödie etwas von einem Anti-Ritual an sich.

Wenn die Tragödie ein Übermaß an kathartischer Wirkung besitzt, […], dann verdankt sie das nur dem anti-rituellen Moment ihrer ursprünglichen Inspiration. 19

Die Tragödie wiederholt den Mythos nicht wie ein Ritual, sondern dekonstruiert ihn bis zu einem gewissen Grad. Denn sie lässt eben jene Gewalt aufscheinen, die dem Mythos zwar eingeschrieben ist, die aber gleichzeitig immer verhüllt bleibt. Die tragische Katharsis kreist, so René Girard, immer um die Gründungsgewalt, obwohl, oder gerade weil sich diese bereits zurückgezogen hat.

Aristoteles‘ Opferhandbuch

Befasst man sich etwas intensiver mit dem Aristoteles-Text, dann lässt sich leicht feststellen, dass er in gewisser Hinsicht einem wahren Opfer-Handbuch gleicht. […] Damit es [das Opfer] die Leidenschaften polarisieren und reinigen kann, muss es […] allen Gliedern der Gemeinschaft zugleich ähnlich und nicht ähnlich, nahe und fern, dasselbe und das Andere, der Doppelgänger und der heilige Unterschied sein. 20

Rene Girard bezieht sich hierbei auf die von Aristoteles aufgestellten Merkmale für Qualitäten der tragischen Helden. In vielen Tragödien fallen, so Girard, die Wortgefechte zwischen zwei, in etwa gleich starken Helden auf. Sie verkörpern in perfekter Symmetrie – in Form der Stichomythie – die Mimesis der rivalisierenden Gewalt. Aus der mimetischen Perspektive Rene Girards besteht die tragische Hybris im Willen, immer Recht zu behalten.

Rivalisierende Gegner

Diese Selbstüberschätzung ist die Kraft, die die rivalisierenden Gegner immer tiefer in den tragischen Konflikt hineinzieht:

Jeder glaubt zuerst, er sei fähig, die Gewalt zu bewältigen; aber es ist die Gewalt, die alle Protagonisten nach und nach überwältigt und sie ohne ihr Wissen in ein Spiel, in das der gewalttätigen Reziprozität, hineinzieht. […] Jeder sieht im anderen den Usurpator einer Legitimität, die er zu verteidigen glaubt und doch ständig schwächt. 21

Die Gewaltsamkeit der Opferung selbst wird in der Tragödie nicht wie im Mythos verhüllt dargestellt. Sie wird im Gegenteil gerade zu ihrem Thema schlechthin.

Rituelle Warnung

Euripides‘ Medea bereitet den Tod ihrer Kinder, die ihrer Rachsucht zum Opfer fallen, vor, wie eine Priesterin ein Opfer vorbereitet.

Vor der Opferung stößt sie, wie es der Brauch will, die rituelle Warnung aus; sie befiehlt allen, deren Gegenwart den Erfolg der Zeremonie gefährden könnte, sich zu entfernen. Medea […] führt uns an die elementare Wahrheit der Gewalt heran. Wird das Bedürfnis nach Gewalt nicht gestillt, sammelt sie sich weiterhin an, und zwar bis zu jenem Moment, wo sie überbordet und sich mit vernichtender Wirkung in ihrer Umgebung ergießt. 22

Krise des Rituellen

Der Opfer-Ritus sollte, nach Rene Girards Interpretation, vor der Ansteckungsgefahr der Gewalt schützen. Demgegenüber warnt die Tragödie vor der Gewalt, indem sie die mimetische Dynamik ihrer Entstehung darstellt. Hierin offenbart sie, so Rene Girard, gerade ihre Verwurzelung in der Krise des Rituellen. Die Tragödien-Form schafft, in Abgrenzung zum Ritual, eine Metaebene, auf der der Ritus kritisch verhandelt werden kann.

Viele Tragöden thematisieren gerade ein Missglücken der Opferung. Die opfer-kultische Gewalt nimmt eine fatale Wendung und führt erst recht zu einem Gewaltausbruch.

In Euripides Herakles gerät der Held, der sich durch eine Opferung von seinen gewaltsamen Heldentaten reinigen möchte, gerade durch den Akt der Opferung selbst in den gefürchteten Blutrausch. Er opfert seine engste Familie – Frau und Kinder – die er eigentlich durch die Reinigung schützen wollte.

König Ödipus von Sophokles wird zum Opfer des Sündenbockmechanismus schlechthin. Die Suche nach einem Schuldigen für den Ausbruch der Pest fällt auf den Suchenden selbst zurück.

Während das Theater einerseits die Distanz eines Spiegels zum Leben wahrt, ist andererseits seine Nähe zum Leben der Grund dafür dass es die im Hinblick auf Konflikt – denn Leben ist Konflikt und Wettkampf nur eine Unterart von Konflikt – zum Kommentar oder ‚Metakommentar‘ am besten geeignete Form ist. 23

Misstrauen gegenüber dem Opferritual

Dem Opfer als Präventivmaßnahme zur Gewaltvermeidung wird in der Tragödie nicht mehr blind vertraut. AischylosEumeniden (ein Teil der Orestie) thematisiert den Grund für dieses neue Misstrauen gegen das Opferritual. Etwa gleichzeitig mit der Geburt der Tragödie entstand im antiken Griechenland eine unabhängige Rechtssprechung.

Die Historiker stimmen darin überein, dass die griechische Tragödie in einer Zeit des Überganges von einer archaischen religiösen Ordnung in eine nachfolgende ‚modernere‘, staatliche und gerichtliche Ordnung gehört. 24

Erinnyen und Eumeniden

Mythologisch drückte sich dieser grundlegende, gesellschaftliche Wandel in der Transformation der gefürchteten Erinnyen (Rachegöttinnen) in Eumeniden (Göttinnen des Rechts) aus. Menschenopfer verloren damit – auch wenn sie noch nicht gänzlich verschwanden – ihre Berechtigung.

Das Gerichtswesen wendet die von der Rache ausgehende Bedrohung ab. Es hebt die Rache nicht auf; vielmehr begrenzt er sie auf eine einzige Vergeltungsmaßnahme, […]. Die Entscheide der gerichtlichen Autorität behaupten sich immer als das letzte Wort der Rache. […] Es gibt keinen prinzipiellen Unterschied zwischen privater und öffentlicher Rache, aber auf sozialer Ebene ist die Differenz enorm: die Rache wird nicht mehr gerächt; der Prozess ist an sein Ende gekommen; die Gefahr der Eskalation ist gebannt. 25

Tragödie: ritual-kritische Dekonstruktion des Mythos

Aus dieser größeren Sicherheit heraus konnten die Tragödiendichter eine mutigere, Ritual-kritischere Haltung gegenüber dem Mythos einnehmen. Durch die Übertragung der Gewalt an den Staat musste man nicht mehr fürchten, wegen kleinster ritueller Übertretungen ins Rache-Chaos zurückzufallen. Die Tragödien-Dichter konnten daher freier mit den Stoffen des Mythos umgehen, als dies im konservativen Opferritualsystem je möglich gewesen wäre.

Entlastung von der rituellen Aufgabe

Dadurch konnte sich das rituelle Antiritual – die Tragödie – formal viel schneller weiter entwickeln als ein gewöhnliches Ritual. Diese konservative Aufgabe der Aufrechterhaltung der Ordnung erhielt das Rechtssystem. Die Tragödie hat durch ihre Entlastung jedoch ihre politischer Wirkung nicht verloren.

Im Gegenteil, gerade durch diese Arbeitsteilung von Kunst- und Rechtssphäre konnte sich das kritische Potenzial der Kunst erst voll entfalten. Im Rechtswesen hat das Ritual bis zu einem gewissen Grade überlebt. Gegen allen Anschein hat die Religion ihre Bedeutung für die Gerichtsbarkeit bei Weitem nicht verloren:

Gerichtswesen

So wie die opferfähigen Opfer im Prinzip einer Gottheit dargebracht und von dieser angenommen werden, so beruft sich das Gerichts-wesen auf eine Theologie, die die Wahrheit seiner Gerechtigkeit garantiert. Diese Theologie kann sogar verschwinden, so wie sie aus unserer Welt verschwunden ist, und gleichwohl bleibt die Transzendenz des Systems intakt. […] Es vergehen Jahrhunderte, bevor die Menschheit inne wird, dass es keinen Unterschied zwischen ihrem Rechtsgrundsatz und dem Racheprinzip gibt. 26

Dyas

Da er die mimetische Ansteckung der Rivalität herausarbeiten möchte, betont René Girard in seiner Charakterisierung der tragischen Kunst das Agonale. Demgegenüber wies Vjaceslav Ivanovic Ivanov darauf hin, dass der agonale Konflikt bereits eine abgeleitete Form der Dyas darstellt.

Die Dyas charakterisiert die nur dem Menschen eigene, konflikthafte Zwiespalt. Die Spannung zwischen seinen/ihren körperlichen Bedürfnissen und dem Streben, am Göttlichen teilzuhaben; zwischen der Sterblichkeit und der Sehnsucht nach Unendlichkeit; zwischen Selbstverherrlichung und Demut, Egoismus und Liebe. Die Auflösung des inneren, tragischen Konflikts, zwingt die Menschen, sich von Grund auf zu wandeln oder zugrunde zu gehen.

Innerer Konflikt

Das Grundpathos [der Tragödie] […] wird in dem aufwühlenden Erlebnis des Risses wurzeln, des dunklen und leeren Abgrundes zwischen zwei nahen, aber unvereinbaren Rändern, in der Empfindung der verborgenen und unversöhnlichen Widersprüche des seelischen Lebens, deren Klaffen das Geheimnis des Seins leise aufdecken wird. […] Diese Kunst muss die Seele erschüttern und erziehen – durch einen heiligen Schauer. 27

Vermehrung der Helden

In den ersten Tragödien trat nur ein einziger Darsteller, und damit auch nur eine einzige Heldin auf.

Aischylos hat die Anzahl der Schauspieler auf zwei gebracht und den Anteil des Chores verringert. Sophokles hat den dritten Schauspieler und die Bühnenbilder hinzugefügt. 28

Deshalb musste vor dieser Vermehrung eine einzelne Heldin den inneren Konflikt dargestellt haben, der aus der seelischen Spaltung hervorgeht.

Die ‚weibliche Seele‘ der Tragödie

Die tragische Energie mehrt sich, wenn die Dyas im tragischen Charakter selbst zum Ausdruck kommt – sie wird geschwächt, […] wenn sie in die Beziehungen der handelnden Personen, in die Situation verlegt wird. Die echte Tragödie fordert, dass der Held seinem Wesen nach tragisch sei; solch ein Charakter wird auch die Situation unvermeidlich in eine tragische verwandeln. 29

Die innere Gegensätzlichkeit der Dyas setzt eine Einheit voraus. Diese inner-seelische Spaltung bei gleichzeitiger Einheit sieht Ivanov in weiblichen Charakteren viel deutlicher hervortreten als in männlichen. Ivanov spricht deshalb der Tragödie eine weibliche Seele zu.

Mänade und Monade

Die Tragödie ist eine Mänade […] Die Handlung vollzieht sich zwischen Gott und dem von ihm begeisterten Weib, das vom Chor repräsentiert wird; der antike Chor empfand sich als eine Person. […] In seiner Ekstase findet sich [die Mänade] selbst und dieses Sich-finden in der Macht ist ein Gefühl des schmerzvollen und berauschenden seelischen Krampfes. Das Weib entdeckt in sich zwei Seelen, zwei Willen, zwei Triebe. […] [Ihr Konflikt entspringt einem] Aufstand gegen die [männliche, apollinische] Monade. 30

Der männliche Held eignet sich so Ivanov, als Einzelner nicht zum tragischen Heros. Deshalb führt die Entmachtung der dionysischen ‚Mänade‚ durch die apollinische ‚Monade‚ (den männlichen Heros), zu jenen rivalisierenden Verdoppelungen, die René Girard beschreibt.

Ausweitung des Konflikts

Die konflikthafte Dyas wird schließlich in einem Kollektiv zum Ausdruck gebracht. Erst in der Entfernung von der dionysischen Dyas, durch die Ausweitung des Konflikts auf mehrere Charaktere, konnte sich die Tragödie zu jener Kunstform entwickeln, die bis heute überlebt hat.

Nach der Pythagoräischen Zahlenlehre nahm die Monas das Verhältnis der tätigen Ursache ein und wurde dem männlichen Prinzip zugeordnet. Die Dyas wurde als leidendes, aber auch bewegtes und unbegrenztes Differenzprinzip dem Weiblichen zugeordnet. Diese Zuordnung geht offenbar davon aus, dass sich der Handelnde seiner Intention immer bewusst ist. Was gerade auf die Tragödien-Helden nicht zutrifft.

Man muss jedoch diese essentialistische Zuordnung des Konflikts oder der ‚Dyas‚ zum weiblichen Geschlecht nicht mit vollziehen. Der Gedanke, dass der Konflikt noch tragischer wirkt, wenn er sich zunächst im Einzelnen ereignet, ist auch ohne diese Zuschreibung nachvollziehbar.

Gespaltenheit

In der Tragödie schafft die Heldin ihr Leid gerade durch ihre eigene, durch den inneren Konflikt verblendete, maßlose Handlung. Die Monas ist nach der Pythagoräischen Zahlenlehre das, was sich selbst gleich ist. Deshalb wird ihr das Prinzip der Identität zugerechnet. Die Dyas ist mit sich selbst nicht gleich, sie steht sowohl für den Mangel, als auch für den Überschuss. Sie ist das Prinzip des Dazwischen, die dynamische Differenz zwischen dem Übertreffenden und dem Übertroffenen.

Ivanov spricht deshalb von der Dyas, weil der Held, die Heldin ihren Konflikt, ihre Gespaltenheit erleiden. Sein/Ihr Handeln geht aus dem inneren Konflikt hervor, und weitet sich zum Konflikt mit anderen Charakteren aus. Der innere Widerspruch steht ja keineswegs im Gegensatz zum Konflikt des Einzelnen mit anderen. Der eine führt nur allzu oft zum anderen. Innere Konflikte lösen in der Regel Konflikte mit anderen aus.

Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Friedrich Nietzsche beschreibt in seinem Werk Die Geburt der Tragödie den langen Kampf zwischen dem dionysischen und dem apollinischen Prinzip. Aus deren Ehebündnis sei schließlich – als Kind – die Tragödie hervorgegangen.

Wie der Titel seiner Abhandlung suggeriert, geht Nietzsche von der Annahme einer Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik aus. Im antiken Griechenland wurde nicht nur zwischen der olympischen und der chthonischen Kultsphäre eine strikte Trennung gezogen. Auch in der griechischen Musik existierte eine Aufteilung der musikalischen Stile: dem kitharischen und dem ‚auletischen‚.

Tonart der Tragödie

Die kitharische Musik, die Begleitung der gesungenen Heldenepen mit der Lyra, strebte nach Maß und Gleichgewicht und sollte Mut bewirken.

Die auletische Flötenmusik hatte einen klagenden, wehmütigen, aber auch enthusiastisch aufregenden Charakter.

Diese beiden musikalischen Stimmungen entsprechen einerseits der apollinischen und andererseits der dionysischen Sphäre:

Das Apollinische kommt durch den kitharischen Stil zum Ausdruck. Apollinische Zustände sind etwa: Klärung des Bewusstseins, Sammlung des Willens, mentale Rüstung zur Abwehr der Gefahr, Selbstbeherrschung.

Der chthonischen, pathetischen, enthusiastischen, dionysischen Sphäre hingegen entspricht der auletische Musikstil.

Die Beziehung der Tragödie zum Epos wird eben von ihrem Ton bestimmt. Denn sie ist nicht nur eine Dramatisierung des Epos, sondern eine Umsetzung oder Transponierung desselben in eine andere Tonart, die wir mit dem Moll vergleichen könnten. Die Änderung der Tonart brachte eine neue Form mit sich – die dramatische. 31

Dithyrambos

Als dionysischer Gesang vereinigte der Dithyrambos die beiden Pole des Enthusiasmus. Vom Festjubel reichte er, durchsetzt mit disharmonischen Rufen, bis zur ekstatischen Trauer.

Die Tragödie ist aus dem dithyrambischen Chor entstanden, der vom Choreuten, dem Vorsänger, begleitet wurde. In der Proto-tragödie war, so Ivanov, das tragisch Trauer-volle noch mit dem Ausgelassenen des Satyr Spiels vermischt.

Die Dionysos Religion schließt in sich sowohl das Pathos wie die Katharsis ein, und darin besteht ihr Hauptunterschied von der rein chthonischen Religion [die allein auf dem Totenkult beruht]. 32

Chor der Böcke

Die Satyrn galten als chthonische Dämonen, Begleiter des Helden aus dem Reich der Unterwelt. Sie brachten einen Zustrom von neuen Lebenskräften aus dem fruchtbaren Hades mit. Nietzsche war begeistert von der Vorstellung Schillers, der Chor der Böcke (Tragoi choroi) bilde eine menschliche Mauer; eine Abschirmung des sakralen Raumes der tragischen Szene von der profanen Wirklichkeit.

Der Satyrn-Chor sei im Gegensatz zum Publikum, ganz von der Vision des tragischen Geschehens auf der Bühne gefangen. Er hält diese Szenen für seine Realität.

Diener des Gottes der Verwandlung

Der dithyrambische Chor ist ein Chor von Verwandelten, bei denen ihre bürgerliche Vergangenheit, ihre soziale Stellung völlig vergessen ist. Sie sind die zeitlosen, außerhalb aller Gesellschaftssphären lebenden Diener ihres Gottes geworden. […] Diese Verzauberung ist die Voraussetzung der dramatischen Kunst. 33

Die Chorpartien, die den dionysischen und musikalischen Mutterschoß der Tragödie bilden, entladen sich, so Nietzsche, in der apollinischen Bilderwelt der Szene. Die dramatischen Szenen sind daher Objektivationen eines dionysischen Zustandes und der Chor sei die Verkörperung der dionysisch erregten Masse. Mit seinem pathetischen Sprechgesang diene er der Anregung der Affekte der Zuschauer.

Schrankenlos

Die Verzückung des dionysischen Zustandes mit seiner Vernichtung der gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins enthält […] während seiner Dauer ein lethargisches [hemmendes] Element, in das sich alles persönlich in der Vergangenheit Erlebte eintaucht. So scheidet sich durch diese Kluft der Vergessenheit die Welt der alltäglichen und der dionysischen Wirklichkeit voneinander ab. Sobald aber jene alltägliche Wirklichkeit wieder ans Bewusstsein tritt, wird sie mit Ekel als solche empfunden. 34

Der dionysischen Einblick in die grauenhafte Wirklichkeit oder in den klaffenden Spalt des inneren Konflikts hemmt den Antrieb zum Handeln. Der daraus resultierende ‚Ekel‚ wird durch die apollinische Katharsis gebändigt.

Ekelhafte Einblicke in die Absurdität des Daseins

Jenen hemmenden Ekel vor der Absurdität des Daseins kann man auch als emotionale Überwältigung durch den tragischen Konflikt beschreiben. Dieses Ekelgefühl entsteht aus der Unmöglichkeit der Abgrenzung, der Entdifferenzierung; aus dem Gefühl, haltlos in den chaotischen Abgrund des Konfliktes hineingezogen zu werden.

Doch die Rettung naht: Die ästhetische Distanz nimmt der dionysischen Erfahrungen das Überwältigende. Sie entschärft es und verwandelt es in eine ‚erhabene Vision‚.

Entladung durch Humor

Das Erhabene ist, so Nietzsche, die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen. Durch die ästhetische Distanz rückt der Abgrund in die Ferne. So wurde zu Beginn der Entwicklung der griechischen Tragödie der Theaterabend stets durch das komische Satyrspiel abgeschlossen. Damit konnten die konflikthaften Gefühle durch Humor entladen werden.

Das Leiden des Heros entsteht aus dem Konflikt zwischen dionysischen und apollinischen Trieben.

Bei dem Versuch über den Bann der Individuation hinaus zu schreiten und das eine Weltwesen selbst sein zu wollen, erleidet er [der Held] an sich den in den Dingen verborgenen Urwiderspruch, das heißt er frevelt und leidet. 35

Gipfel der Selbstbehauptung

Die Individuation offenbart sich in der Tragödie als Abgrund. Der tragische Heros stellt den Gipfel menschlicher Selbstbehauptung dar. An der Maßlosigkeit und Hybris der tragischen Helden zeigt sich, dass alle diese Heroen nur Masken des Dionysos sind. Hinter den Masken steckt niemand anderer als der Gott der Verwandlung selbst.

Dionysos ist es auch, der den Helden und seine chthonischen Begleiter, die Satyrn, aus dem Hades heraufbeschwört. Als Psychopompos führt er die Helden, deren Schicksal auf der Bühne aufgeführt wurde wieder ins Totenreich zurück. Dionysos galt als Löser der Seelen dessen Kraft die Lebenden und Toten befreit. Seine Kraft erlaubte es ihnen zeitweise, in fremden Hüllen umherzuschweifen, wie die ‚Tragoi‘, Darsteller der Helden der Tragödie.

Chthonischer Gott des Leidens

Die dionysische Katharsis verbannte die Schatten nicht aus der Gemeinschaft der Lebenden. Sie ließ im Gegenteil die Lebenden an jenseitigen Eingebungen teilhaben und entließ sie gereinigt und lebendiger als je zuvor:

Die Angleichung an den chthonischen Gott, […] seine Aufnahme in sich [Enthousiasmos] das ist der Inhalt des kultischen Pathos, des heiligen Erduldens des göttlichen Leidens. Das Ergebnis – die ganze Fülle der Gnadenwirkung ist die Reinigung, die Katharsis. 36

Doch dass Dionysos in dieser Deutlichkeit im Netz des Einzelwillens verstrickt erscheint, liegt nur an der apollinischen Visions- und Deutungskraft. Das über-distanzierte apollinische Prinzip bewirkt einen Ausgleich des unter-distanzierten Pathos des Dionysischen.

Ästhetische Distanz

Die aus diesem Ausgleich entstehende ästhetische Distanz bewirkt, dass die Zuschauer vom Pathos nicht überwältigt werden. So ermöglicht das Apollinische Prinzip erst die tragische Katharsis.

Das Drama […] erreicht als Ganzes eine Wirkung, die jenseits aller Apollinischen Kunstwirkungen liegt. […] Dionysos redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schließlich die Sprache des Dionysos, womit das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt erreicht ist. 37

Durchleben der Affekte

Das Pathos muss in der Tragödie überwiegen. Dies gilt nicht nur, weil sie ein Trauer-Ritual für den mythischen Helden ist. Die kathartische Aufgabe der Tragödie ist es, den Pathos im Publikum zu erwirken. Denn ohne das Mitleiden und das Durchleben der Affekte ist keine Katharsis möglich. Das Apollinische Prinzip sorgt nur für die ausgeglichene Distanz zum durchlebten Pathos, sodass dieser den Zuschauer nicht überwältigt.

Wie Dionysos sowohl Opfer als auch Opfernder ist, so wird der tragische Held einerseits vom Pathos heimgesucht; und schafft andererseits durch seine verblendete ‚Hybris‚ Leid, und bewirkt so als ‚Pathematon‚ Empathie im Zuschauer.

Trauerritual

Der dem Dionysos geweihte Bock, der Schauspieler (Tragoi), wird freiwillig zum Sündenbock der gesamten Theatergemeinschaft: Darsteller, Chor und Zuschauer. Er beschwört durch seine Maske und sein Kostüm – wie in der Totengedenkfeier – den Geist des Helden herauf. Besessen vom tragischen Charakter, lässt der Schauspieler das Publikum die tragischen Affekte des mythischen Helden noch einmal durchleben und durchleiden. Dadurch, und durch die ästhetische Distanz um Geschehen, bewirkt er/sie die Katharsis.

Die Einfühlung, vor allem die Einfühlung in verschiedene Figuren, wie sie im Laufe der Aufführung vollzogen werden kann, lässt sich als ein probeweises Übernehmen und Ausagieren neuer Rollen und Identitäten begreifen und in diesem Sinne als Schwellenerfahrung [wie in einem Initiationsritus]. 38

Spiel aller für alle

Im Pathos vereint, durchlebt die Theatergemeinschaft einen transformativen Schwellenzustand, in dem – wie in der ‚Opferkultkrise‘ – alle Unterschiede dahin schmelzen.

Die Beschreibung der gesellschaftlichen Bedeutung des Theaters von Max Herrmann, dem Gründer des ersten Instituts der Theaterwissenschaft in Deutschland, weist deutliche Parallelitäten mit René Girards Charakterisierung des gemeinschaftsstiftenden Opferrituals auf:

[Der] Ur-sinn des Theaters […] besteht darin, dass das Theater ein soziales Spiel war, – ein Spiel Aller für alle. Ein Spiel, in dem alle Teilnehmer sind, – Teilnehmer und Zuschauer. […] Das Publikum ist sozusagen Schöpfer der Theaterkunst. […] Es ist beim Theater immer eine soziale Gemeinde vorhanden. 39

Übergangsriten

Mit dem Begriff Schwellenzustand bezeichnete der Anthropologe Arnold van Gennep in seinem Werk Übergangsriten eine der drei Phasen von Initiationsritualen.

Die erste Phase, die Trennungsphase, grenzt [wie der griechische Chor die Szene] klar den sakralen Raum und die sakrale Zeit vom säkularen Raum und der profanen Zeit ab […] sie schließt Symbole [ein], die profane Dinge, Beziehungen und Prozesse umkehren. […] Während der […] Schwellen- bzw. Umwandlungs- oder auch liminale[n] Phase […] durchläuft das rituelle Subjekt eine Zeit […] der Ambiguität, eine Art sozialen Zwischenstadiums, das wenige Merkmale […] der vorangegangenen oder der folgenden profanen sozialen Positionen […] aufweist. […] Die dritte […] als Angliederung oder Inkorporation bezeichnete Phase umfasst symbolische […] Handlungen, die die Rückkehr der rituellen Subjekte in die Gesellschaft und zu ihrer neuen, relativ stabilen und genau definierten Position darstellen. 40

Latentes System potentieller Alternativen

Während der Schwellenphase einer Initiationszeremonie leben die Initianden in einer Antistruktur. Die Gesellschaft hat in dieser Zeit keine Macht über sie. Da sie außerhalb der Ordnung stehen, gelten sie als sakral, unberührbar, ansteckend, gefährlich wie die Götter. Die Antistruktur der liminalen (Schwellenphase) des Übergangsrituals stellt das latente System potenzieller Alternativen dar (Brian Sutton-Smith).

Gerade weil die Initianden außerhalb der Ordnung stehen, können sie, so Turner, unbeschwert mit den Elementen des Vertrauten spielen. Sie können Gewohntes verfremden und etwas Neues daraus schaffen.

Dass Dionysos der Gott des Schwellenzustandes ist, liegt auf der Hand:

Er hebt für die von ihm Besessenen alle Verbote auf und seine Allgegenwart reinigt von allem Übel und Siechtum des Lebens und der Seele. 41

Communitas

Diese transformativen Schwellenzustände, die die Begrenzung des Individuums in der Communitas des gemeinsam erlebten Pathos aufheben, haben Künstler wie Antonin Artaud, Georg Fuchs, Julian Beck, Hermann Nitsch, Jerzy Grotowsky, Richard Schechner, Christoph Schlingensief, Christoph Marthaler am Theater-Ritual besonders fasziniert.

Liminale Gemeinschaft

Sie waren, so Erika Fischer-Lichte, in je unterschiedlicher Weise, gebannt

]…[ [von der Möglichkeit,] in und durch die Aufführung Gemeinschaften herzustellen, wieder aufzulösen und über sie zu reflektieren. 42

Der liminale Zustand entsteht durch affektive Ansteckung, die wiederum eine Transformation des Einzelnen auslösen kann.

In der Rückbesinnung auf das Ritual droht aber eine gewisse Gefahr für die Freiheit des Individuums. In kollektivistischen Gesellschaften war das Ritual kein Freizeitvergnügen, wie der Theaterbesuch. Es galt vielmehr als Werk – als Arbeit des Menschen an der Aufrechterhaltung der kosmischen Ordnung.

Totale Partizipation

Das Ritual erforderte die totale Beteiligung der gesamten Gemeinschaft. Es war die Pflicht eines jeden Mitgliedes der Gemeinde, daran teilzunehmen. Deshalb unterscheidet Victor Turner zwischen liminalen und liminoiden Zuständen. In industrialisierte, komplexen Gesellschaften, in denen sich die Unterteilung des Lebens in Arbeit und Freizeit durchgesetzt hat, und das Ritual seine Verbindlichkeit verloren hat, können nur noch liminoide Zustände erlebt werden.

Kurzes Aufflackern des Subversiven

In archaischen, vom Ritual geprägten Gesellschaften kann hingegen, so Turner, das Liminale nie mehr sein, als ein kurzes, subversives Aufflackern.

Sobald es auftritt, wird es in den Dienst der Normativität gestellt. […] [es enthält aber] eine Art institutionelle Kapsel oder Hülle, die den Samen künftiger sozialer Entwicklung, gesellschaftlichen Wandels auf eine Weise in sich birgt, dass die zentralen Tendenzen eines sozialen Systems niemals ganz zu Sphären werden können, in denen Recht und Ordnung sowie die ihnen dienenden Formen der sozialen Kontrolle den Ausschlag geben. 43

Auflösung der Persona

Die Tragödie steht insofern zwischen dem Liminalen und Liminoiden: Sie ist zwar aus dem Trauer- und Opfer-Ritual entstanden. Als Schau-spiel hat sie aber mehr dem nicht-zwanghaften Anteil des Rituals zu verdanken. Die liminale Chora ist die Quelle ihres Formenreichtums.

Die Tragödie enthält, trotzt dem Vorherrschen der dionysischen Katharsis, zuletzt doch auch den apollinischen Schutz. Die ästhetische Distanz zwischen Bühnen-Geschehen und Zuschauer schützt vor der nachhaltigen Auflösung der Persona in der Communitas. Sie schützt damit auch vor der kollektiven, dionysischen Raserei, in die die sakrale Reinigung manchmal führte.

Da der [dionysische] Wille zur Selbsthingabe keine Grenzen kennt, so bildet gerade das Übermaß seiner Selbstentäußerung eine Gefahr für die göttliche Integrität. Darum ist der Selbstvergeudung des Dionysos eine Schranke gesetzt in der Gestalt eines anderen Ich, das Apollon heißt und sich als Gott der sieghaften Einheit und wieder-vereinigenden Kraft [des Individuums] offenbart. 44

Apollinische Warnung

Die apollinische Warnung vor der durch den tragischen Konflikt offenbarten Gewalt soll den Zuschauer am Höhepunkt des Dramas wie eine kalte Dusche ‚abkühlen‘: Genau in jenem Moment, in dem der tragische Konflikt auf der Bühne in Gewalt umkippt; kurz bevor die Tragödie ihn aus dem affektiven, hitzigen, liminalen Zustand wieder auf die soziale Bühne des profanen Alltagslebens entlässt.

Jedes Kunstwerk, dessen Kraft betroffen macht, ist zumindest so weit initiatorisch, als es die Gewalt und deren Wirken vorausahnen lässt; es mahnt zur Vorsicht und wendet sich von der Hybris ab. 45

Kathartische Funktion einfacher Rituale

In seinem Werk Catharsis in Healing Ritual, and Drama, weist der Anthropologe Thomas Scheff darauf hin, dass selbst die einfachsten Rituale schon kathartische Wirkungen haben können. Die Überbetonung der kognitiven Funktionen des Rituals habe viele Anthropologen für die emotionalen Aspekte des Rituals blind gemacht. Das Ritual erfüllt in archaischen Gesellschaften insofern eine kathartische Funktion, als es die Emotionen in einer ausgeglichenen Distanz hält.

Distanzierung im Ritual

Um eine Katharsis zu bewirken, enthalten Rituale Distanzierungstechniken. Dadurch soll die Aufmerksamkeit der Ritual-Teilnehmer so gelenkt werden, dass diese sich gleichzeitig als Beobachter und als Teilnehmer der durch das Ritual ausgelösten Emotionen fühlen können.

Mittel, die die Distanzierung in Ritualen bewirken, sind unter anderem die Verwendung von Masken, eine stilisierte Sprache und das bewusste Mischen von positiven und negativen Gefühlen. Unter allen Distanzierungstechniken ist jedoch die Musik die machtvollste. Mit keinem anderen Kunstmittel lässt sich die Stimmung und emotionale Spannung eines Rituals, Dramas oder Films so genau steuern.

Die Katharsis Formel

Mit der tragischen Katharsis-Formel lässt sich demnach auch schon das Ritual beschreiben:

Pathos + (ästhetische) Distanz => Katharsis

Rituale entwickeln sich gewöhnlich um wiederkehrende Quellen kollektiver Not. […] Der Schmerz über den dauerhaften Verlust der Toten gibt Anlass zu Begräbnis- und Trauerzeremonien. […] Das Ritual-Drama befasst sich, wie im Fall der griechischen Tragödie, mit den universellen menschlichen Nöten: Tod, Ungerechtigkeit, Verrat, Exil. Jedes Mittel, das es den Menschen erlaubt, sowohl Teilnehmer als auch Beobachter ihrer eigenen Notlage zu sein, erfüllt die zweite Komponente in dieser Konzeption des Rituals: die Distanzierung. 46

Nur die ästhetische Distanz, das Gleichgewicht zwischen apollinischer Überdistanzierung und dionysischer Unter-distanzierung führt zur Katharsis. Wenn die Distanz zum durchlebten tragischen Konflikt zu klein ist, wird der Zuschauer davon pathologisch überflutet und überwältigt. Ist die Distanz hingegen zu groß, bleibt er unberührt oder apathisch.

Katharsis heute?

Weil das Ritual in der heutigen, westlichen Welt unverbindlich – liminoid – geworden ist, hat es zum Teil seine kathartische Wirkung eingebüßt. Rituale werden zu konventionellen Hülsen, wenn sie von den Teilnehmern nicht mehr emotional aufgeladen werden können.

Das Bedürfnis der heutigen Menschen nach emotionaler Katharsis ist jedoch bei Weitem nicht verschwunden. Dies zeigt sich auch daran, dass die meisten Psychotherapien implizit oder explizit auf dem Prinzip der Katharsis basieren.

Man sucht die kathartische Entladung von Spannungen heute unbewusst und großteils vergeblich in der Unterhaltungsindustrie und in Sportveranstaltungen. Während solcher Ereignisse fristet die ästhetische Distanz jedoch eine rare Rand-Existenz.

Man kann argumentieren, dass die Zunahme der Massenunterhaltung und die zunehmende Armut an Ritualen beides Produkte ein und desselben Prozesses sind, nämlich der zunehmenden Verdrängung emotionaler Not in modernen Gesellschaften. 47

Unter-distanzierte Dramen, Krimis, Horror- und Katastrophenfilme, Law- and Order Serien erhöhen die Spannung nur immer weiter, ohne jedoch, wie die Tragödie, zur Katharsis der primären Affekte Trauer, Angst, Wut, Scham oder Entrüstung zu führen. Die wenigen, übriggeblieben Gesellschaftsrituale zeichnen sich hingegen, großteils durch Überdistanzierung aus.

Freud und Breuer

Der Katharsis-Begriff auf den Josef Breuer und Sigmund Freud 1893 ihre Methode zur Therapie der Hysterie bauten, orientierte sich zwar an Bernays‘ Affektabfuhr Theorie. Durch die Differenzierung von unbewusstem Agieren und bewusstem Abreagieren von Affekten war er jedoch um einiges komplexer.

Breuer nannte unser Verfahren das kathartische; als dessen therapeutische Absicht wurde angegeben, den zur Erhaltung des Symptoms verwendeten Affektbetrag, der auf falsche Bahnen geraten, und dort gleichsam eingeklemmt war, auf die normalen Wege zu leiten, wo er zur Abfuhr gelangen [abreagiert werden] konnte. 48

Abreagieren

Grundlage für diese Methode war die Annahme, dass die Verdrängung unbewältigter traumatischer Ereignisse die hysterischen Symptome (die oft wie Dramatisierungen dieses Traumas wirken) auslöst.

Die Therapie bestand darin, durch Hypnose die verdrängten Szenen wieder ins Bewusstsein zurückzurufen. Die in der traumatischen Situation verhinderten oder unterdrückten Affekte sollten noch einmal durchlebt und dabei abreagiert werden.

Eingefrorene Szene

Breuer und Freud stellten fest, dass die traumatischen Ereignisse (durch die Repression oder Verdrängung gleichsam eingekapselt) nicht die gewöhnliche Bearbeitung durch das Gedächtnis erfahren:

Man darf also sagen, dass die pathogenen Vorstellungen sich darum so frisch und affectkräftig erhalten, weil ihnen die normale Usur [das Sinken des Affektbetrages der Vorstellung durch bewusste, mentale Verarbeitung] durch Abreagieren und durch Reproduction in Zuständen ungehemmter Association versagt ist. 49

Der Umstand, dass die Bewegung des Affektes, den das traumatische Ereignis eigentlich hätte auslösen müssen, aus bestimmten Gründen abgeschnitten oder aufgehalten wurde, friert die Szene für das Bewusstsein sozusagen ein und verdunkelt sie. Sie kann nicht mehr bewusst bearbeitet werden und wirkt so unbewusst weiter.

Diese eingefrorene, meist auch durch eine andere Szene verdeckte, unbewusste ‚Erinnerung‘ an das Trauma wirkt, so Freud und Breuer, wie ein Fremdkörper, der noch lange Zeit nach dem Eindringen Reaktionen auslösen kann. Denn durch die Unterdrückung dieser Reaktion auf das traumatische Ereignis bleibt der Affekt mit der erstarrten Erinnerung verbunden.

Aufführen statt abführen?

Die traumatische Szene wird in Form von Symptomen immer wieder von Neuem performativ aufgeführt statt ein für alle Mal kathartisch abgeführt. Freud und Breuer sprechen hier von unbewussten ‚agieren‘, im Gegensatz zum bewussten abreagieren.

Die Hypnose diente in diesem Durcharbeiten des Gedächtnisses auf der Suche nach möglichen, traumatischen Auslösern von Symptomen und der Überwindung von Widerständen. Solche Widerstände gegen die Analyse entstehen durch die Repression von Affekten oder Erinnerungen, die mit der bewussten Zensur in Konflikt stehen.

Affektive Wiederbelebung

Die Katharsis in der Behandlung von Hysterie besteht daher darin, die eingefrorenen Szene dem Bewusstsein wieder zugänglich zu machen. Darüber hinaus sollen sie – was noch wichtiger zu sein scheint – affektiv reanimiert werden. So, dass die aufgehaltene Bewegung der Affekte sich vollenden kann.

Affectloses Erinnern ist fast immer völlig wirkungslos; der psychische Prozess, der ursprünglich abgelaufen war, muss so lebhaft als möglich wiederholt, in statum nascendi gebracht und dann ‚ausgesprochen‘ werden. Dabei treten, wenn es sich um Reizerscheinungen handelt, dies: Krämpfe, Neuralgien, Halluzinationen – noch einmal in voller Intensität auf und schwinden dann für immer. 50

Mänadischer Konflikt

Neurosen und Hysterie entstehen, so Freud und Breuer, aus Konflikten zwischen der bewussten Person und ihren unbewussten Trieben. Wenn diese Konflikte nicht gelöst werden können und in unerträglicher Intensität auftreten, werden die konfligierenden Triebe unterdrückt. Die heilende Katharsis besteht im Fall der Hysterie durch bewusstes Durchleben der belastenden Erinnerung und dem damit verbundenen Schmerz.

Warum hat Freud die kathartische Methode aufgegeben, wo sie doch in sechs oder sieben der neun in den Studien über Hysterie beschriebenen Fällen zur Heilung geführt hat? War diese Methode vielleicht zu gut? Hat sie zu klar die Traumen aufgedeckt, die hinter Neurose und Hysterie stehen? Hatte Freud Angst, durch die Katharsis zu viel vom dunklen, gewaltsamen Untergrund der feinen bürgerlichen Gesellschaft an die Oberfläche des Bewusstseins dringen zu lassen oder gar eine me-too-Bewegung avant-la-lettre auszulösen?

Freie Assoziation und Ödipuskomplex statt grausame Wahrheit?

Als Gründungsmythos der Psychoanalyse (die nicht auf Hypnose und Katharsis, sondern auf der Methode der freien Assoziation beruht) zauberte Freud daher einen ‚Komplex‚ aus dem Hut, der nicht zufällig dem Inzest-Mythos schlechthin nachempfunden ist.

[Freuds und Breuers ‚Abreaktions-]Theorie [wurde] von der Fachwelt, darunter vielen Ärzten, Bankiers und Juristen, nicht begeistert aufgenommen. Die meisten von ihnen waren selbst Väter. Und da wir wissen, wie verbreitet sexueller Missbrauch ist, hatten sich einige dieser Männer mit ziemlicher Sicherheit selbst des Inzests schuldig gemacht. Aus diesem und anderen Gründen nahm Freud Abstand […] von seiner therapeutischen Methode, unterdrückte Erinnerungen aufzudecken, um sie durch heftige emotionale Katharsis davon zu befreien. Viele seiner Patientinnen müssen es als grundlegenden Verrat empfunden haben, dass Freud ihre Symptome jetzt nicht mehr auf sexuelle Grenzüberschreitungen zurückführte, sondern als ‚ödipale‘ kindliche Wünsche und Phantasien, die darum kreisen, Sex mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil zu haben. 51

Zu mental?

Abgesehen von diesen gesellschaftlichen Zwängen ist es Freud auch nicht gelungen, die kathartisch-hypnotische Methode theoretisch ausreichend zu fundieren.

Breuer und Freud merkten zwar, dass durch das Wieder-Erleben der im Trauma unterdrückten Affekte, die Symptome verschwanden. Doch sie differenzierten nicht genau, welche Affekte auf welche Weise kathartisch abgeführt wurden. Freuds Ansatz war zu mental, um für diese pathetischen Details offen zu sein.

Der Ansatz von Breuer und Freud legt den Schwerpunkt auf die verbale, mentale Verarbeitung (Usur) des verdrängten Affektes. Sie vernachlässigten in ihrer Theorie die somatische Entladung. Deshalb folgerte Freud, dass es notwendig sei, jedes Symptom einzeln zu seinem traumatischen Auslöser zurückzuverfolgen. Die traumatischen Ereignisse mussten nach seiner Methode einzeln, verbal und in der richtigen Reihenfolge ins Bewusstsein zurückgerufen werden.

Zu vage?

Es ist immer noch möglich, dass die Schwierigkeiten, auf die Freud und Breuer stießen, nicht auf die Ungültigkeit ihrer Theorie zurückzuführen waren, sondern auf Fehler in den von ihnen verwendeten Techniken. Die von Freud und Breuer aufgestellte Theorie war grob und in entscheidenden Punkten recht vage. […] ihre Techniken, die sich aus der Theorie, wie sie sie formulierten, ergaben, waren fehlerhaft, auch wenn die grundlegende Theorie im Wesentlichen gültig ist. 52

Freud und Breuer machten keinen Versuch, die Art der involvierten Affekte, und die Art, wie sie abreagiert wurden, zu klassifizieren. Andere kathartische Therapien (Bioenergetik, Reichsche– und Gestalt-Therapie) waren in dieser Differenzierung, so Thomas Scheff, ebenfalls ungenau.

Somatische Entladung

Es existiert allerdings eine kathartische Therapie, welche den Prozess der Abreaktion explizit definiert: Das Reevaluation Counselling unterscheidet sieben Emotionen und die somatischen Reflexe in denen diese sich entladen: Trauer (weinen), intensive Angst (zittern, mit kaltem Schweiß), Furcht (spontanes Lachen), Zorn (stürmen, mit heißem Schweiß), Ärger (spontanes Lachen), Langeweile (spontanes, ununterbrochenes Reden), somatische Spannung (Gähnen, Strecken, sich Kratzen).

Kathartische Sprache

Nach dieser Theorie existieren vier Haupt-Emotionen: Trauer, Angst, Wut und Langeweile. Die somatische Zustände der Spannung, die den Emotionen zugrunde liegen, entstehen durch Stress.

Unsere Sprache selbst scheint fehlerhaft zu sein, da die Substantive, die wir zur Bezeichnung von Emotionen verwenden, uns dazu verleiten, eher in Zuständen als in Prozessen zu denken, und wir nicht über geeignete Begriffe verfügen, um zwischen dem Leid der Trauer, der Angst, der Verlegenheit und der Wut und ihrer Entladung zu unterscheiden. Vielleicht bedarf es einer neuen Reihe von Begriffen, die allesamt Verben sind: trauern, sich fürchten, schämen, wüten für die bedrängende Seite der Emotionen und ‚enttrauern‘, entfürchten, entschämen, ‚entwüten‘, für die Entladung der Emotionen. 53

Unterdrückte Emotionen

Wenn dieser Prozess der Abreaktion nicht gestört wird, lässt die Spannung, die der Emotion zugrunde liegt, durch die jeweilige somatische Entladung nach. Aber meist wird dieser Prozess durch Unterdrückung der Emotion unterbrochen.

Erziehung, soziale Zwänge und kulturelle Gepflogenheiten bewirken durch die Unterdrückung der somatischen Abreaktion, dass sich die Spannungen immer weiter potenzieren. Dies geschieht vor allem dann, wenn sich die Sozialisation von Emotionen hauptsächlich durch Bestrafung und nicht durch Belohnung vollzieht, und wenn in einer Gesellschaft keine geeigneten kathartischen Rituale existieren.

Verringerung der mentalen Klarheit

Jedes Individuum sammelt auf diese Weise eine große Menge unterdrückter Emotionen an, die sich in körperlicher Anspannung manifestieren. Die akkumulierten Spannungen werden wiederum an andere Individuen weitergegeben. Denn die Abreaktion anderer stellt nun eine Gefahr für das labil gewordene psychische Gleichgewicht dar.

Eine weitere Konsequenz unterdrückter Emotionen ist die Verringerung der Klarheit der Wahrnehmung und des Denkens. Denn die unterdrückten Emotionen hören durch ihre Verdrängung nicht auf, zu wirken. Nur, dass das betroffene Individuum nicht weiß, woher diese Wirkung kommt. Auch die Fähigkeit zur Kooperation mit anderen leidet unter der Ansammlung von unterdrückten Emotionen.

Durch die Repression der Affekte entsteht so ein Gefühl der Leere, der Entfremdung und Teilnahmslosigkeit (Apathie). Deshalb hat die kollektive Entladung von unterdrückten Emotionen in einem geschützten sozialen Umfeld wie dem Ritual, der Performance oder dem Theater machtvolle psychosoziale Wirkungen.

Gegenmittel: öffentliche Katharsis

Die rituelle, öffentliche Katharsis befreit von Spannungen, erhöht das Mitgefühl, den Zusammenhalt und die Solidarität der Gemeinschaft.

Die Theorie der Katharsis durch optimalen Distanzierung bildet auch einen Rahmen für ein tieferes Verständnis der dynamischen Identifikationsprozesse, die sich zwischen den Zuschauern und Charakteren eines Dramas ereignen.

In seiner Analyse der psychologischen Reaktion auf Dramen geht Sigmund Freud davon aus, dass dramatische Szenen das Publikum deshalb bewegen, weil diese Szenen verdrängte Emotionen ansprechen. Dabei müssen die Theaterszenen gar kein exaktes Äquivalent zu den selbst erlebten Szenen bilden.

Was die Theorie betrifft, so muss das Stück Bedingungen schaffen, die dazu führen, dass die unterdrückten Emotionen im Publikum unter einem Gleichgewicht der Aufmerksamkeit wieder angeregt werden, so dass es sowohl Teilnehmer als auch Beobachter der dramatischen Szene sein kann. 54

Durchleben der Affekte

Wenn Aristoteles davon spricht, dass die Katharsis durch Mitleid und Furcht erfolgt, so können wir nun, mithilfe von Thomas Scheffs Definition der Katharsis, diese Empathie präzisieren, und angeben, welche Affekte der Zuschauer mit dem tragischen Helden erleidet und schließlich abreagiert.

So werden Szenen der Trennung und des Verlustes unterdrückte Trauer wiederbeleben, Szenen der Bedrohung des eigenen Lebens verdrängte Ängste, Szenen der Demütigung unterdrückte Schamgefühle, Szenen des Unrechts und der Enttäuschungen unterdrückte Wut.

Steuerung der Identifikation

Die Furcht um den tragischen Helden kann auch als Identifikation mit ihm interpretiert werden, denn ohne sich mit jemanden zu identifizieren, wird man nicht um ihn fürchten.

Um die Aufmerksamkeit des Zuschauers steuern zu können, muss die Identifikation mit den Haupt-Charakteren so gelenkt werden, dass diese Identifikation zwar stark genug ist, um den Zuschauer an den vom tragischen Helden erlittenen Emotionen teilhaben zu lassen, aber andererseits nicht so stark, dass der Zuschauer vergisst, wo er sich befindet, das heißt zu sehr in die in der Vergangenheit selbst erlebte Szene hineinkippt.

Ausschluss und Einschluss

Ein Mittel, um den Zuschauer in eine Szene hineinzuziehen ist, ihn an einem Geheimnis teilhaben zu lassen.

Der Austausch privater Informationen zwischen den Mitgliedern einer Gruppe fördert ein starkes, primitives Gefühl der Zugehörigkeit und damit der Identifikation zwischen den Mitgliedern, so wie das Vorenthalten dieser Informationen bei denjenigen, denen die Informationen vorenthalten werden, ein starkes Gefühl der Ausgrenzung erzeugt. 55

Die Verführung zur Identifikation wird, so Thomas Scheff, fast unwiderstehlich, wenn Einschluss und Ausschluss für die Einbezogenen zugleich sichtbar wird. Zu sehen, dass jemand anderer ausgeschlossen wird, während man selbst einbezogen ist, erhöht das Zugehörigkeitsgefühl und die Identifikation mit der Gruppe um ein Vielfaches.

Geteiltes Wissen

Dieser Situation begegnet man, so Thomas Scheff, in kathartischen Dramen regelmäßig. Etwa wenn das Publikum das Wissen über eine wichtige Tatsache mit einem oder mehreren Charakteren des Dramas teilt, während ein anderer Charakter von diesem Wissen ausgeschlossen ist.

Die Wirkung dieser Distanzierungstechnik des ‚geteilten Bewusstseins‚ ist subtil, aber sehr machtvoll. Sie bietet dem/der Dramatiker/in eine Technik, mit der er/sie die Identifikation des Publikums selbst auf Figuren lenken kann, die gewöhnlich wenig Anziehungskraft haben. Mit derselben Technik kann auch eine dynamische Desidentifikation von Hauptcharakteren bewirkt werden, die gewöhnlich zu viel Aufmerksamkeit bekommen.

Dynamik zwischen Teilhabe und Beobachtung

So kann die Aufmerksamkeit des Publikums in ein dynamisches Gleichgewicht zwischen allen Charakteren des Dramas gebracht werden. Dieses bewegliche Gleichgewicht bestimmt dadurch implizit auch die Distanz zu dem, von einem bestimmten Charakter erfahrenen, Unglück mit.

Durch die Dynamik der Identifikation oder Desidentifikation mit bestimmten Charakteren, kann der Zuschauer immer gleichzeitig Beobachter und Partizipierender der durch diesen Charakter erlebten Emotionen bleiben, was erst die Katharsis dieser Emotionen ermöglicht. In kathartischen Dramen hat fast immer der Zuschauer einen Wissensvorsprung vor einem der Charaktere.

Unter-distanzierte Überwältigungsstrategie

In unter-distanzierten, dionysischen Dramen oder Horrorfilmen verhält es sich, so Thomas Scheff, genau umgekehrt: Der Zuschauer weiß immer weniger als die Charaktere oder der Regisseur und muss ständig fürchten, vom Schock überrascht zu werden. So wird die Spannung – unterstützt durch die Musik, die ständige Bedrohung suggeriert – immer größer, und das Unheil überwältigt den Zuschauer emotional, ohne dass er/sie die erregten Angstgefühle wieder abreagieren kann.

Ankündigung des Unglücks

Durch den Wissensvorsprung des Publikums in klassischen Tragödien, kündigt sich hingegen das nahende Unglück schon an, bevor es sich ereignet, sodass es den Zuschauer weniger überwältigt, und eine Abreaktion der evozierten Emotionen stattfinden kann.

Zu dem Zeitpunkt, an dem das Ereignis stattfindet, ist seine Wirkung durch die vorherige Entladung abgeschwächt worden, sodass das eigentliche Ereignis nicht überwältigend ist. 56

Psychodrama

Auch das von Jacob Levy Moreno in den 1920er Jahren entwickelte Psychodrama basiert auf dem Wiedererleben von Affekten oder erlebten Szenen. Moreno unterscheidet die Handlungskatharsis des Psychodramas von der Erkenntniskatharsis der Psychoanalyse. Handlungskatharsis bedeutet, dass die Handlung im Psychodrama alte Muster durchbricht, und neue Formen schafft.

Auch Moreno wurde bei der Entwicklung des Psychodramas von Jacob Bernays ‚homöopathischen‚ Konzept der Katharsis beeinflusst:

Absicht ist, die Krankheit [oder den Konflikt, der sie ausgelöst hat] sichtbar zu machen, nicht gesund, sondern Krank zu werden. Der Kranke treibt [indem er wie im Fieber seine Krankheit auf die Krise hin zutreibt] selbst seine Krankheit aus. 57

Handlungskatharis

Doch während Breuer und Freud den Katharsis-Begriff ganz aus dem Gemeinschaftsritual herausgelöst haben, hat Moreno ihn wieder in diesen Kontext hineingestellt. Morenos‘ Katharsis-Verständnis unterscheidet sich aber auch durch das Gewicht, das er dem schöpferischen Prozess beimisst, von Bernays mechanischen Katharsis-Verständnis. Durch Spontaneität soll Kreativität aktiviert werden, die den Menschen von seinen Fesseln erlöst. Dieser erlebt die Katharsis als Umschwung, als Reinigung:

Komische Befreiung

Indem ich meine einstige Tragödie noch einmal scheine, wirke ich auf mich, dem ursprünglichen Heros der Tragik, komisch, befreiend, erlösend. Ich breche, indem ich mich doch zugleich tiefernst vor dem Volk, nackt, wie ich war, wieder-spiegele, innerlichst in Gelächter aus; denn ich sehe meine Welt des vormaligen Leidens aufgelöst im Schein. 58

Humor spielt eine wichtige kathartische Rolle im Psychodrama: Jene Momente, in denen man die eigenen Beschränkungen und Verblendungen erkennt, lösen im Rollenspiel oft Lachanfälle der betroffenen Spieler aus.

Als ob

Das Bewusstsein, dass es sich bei aller Involviertheit nur um ein Spiel handelt, bewirkt Erleichterung und Freude am gemeinsamen Erleben. Im geschützten Raum des Spiels, kann der Spieler (unter Einhaltung der ästhetischen Distanz des als ob) neue Verhaltensweisen proben, die auf der sozialen Bühne der Alltagswelt noch nicht möglich sind. Moreno bezeichnet die Psychodrama-Bühne deshalb auch als Erweiterung des Lebens:

Realität und Phantasie bekämpfen einander nicht, sondern sind Funktionen einer erweiterten Sphäre – der psychodramatischen Welt der Objekte, Personen und Ereignisse. 59

Durchspielen

Die psychodramatische Handlungskatharsis ereignet sich, indem der Teilnehmer in der Gruppe eine belastende Szene auf der Bühne durchspielt. Dabei kann er/sie mithilfe der Spontaneität und Kreativität der gesamten Gruppe, spüren, wie sich durch eine Haltungsänderung die gesamte Dynamik der Rollenverhältnisse in der Gruppe verändert.

Das Subjekt konstituiert sich, so der Anthropologe Victor Turner in seiner Theorie des sozialen Dramas, durch die Aufführung von Rollen, durch das Ausbrechen aus Rollen, sowie durch die Kundgebung, dass es sich einer Transformation des Status unterzogen hat.

Soziales Drama

Einer der wirkungsvollsten Interventionen [im Psychodrama], der Rollentausch, ermöglicht ein Erleben auf somatischer, emotionaler und geistiger Ebene. Es bedeutet Involviert-sein, also eine Ich-Position einzunehmen. Diese [Perspektive aus der ersten Person] ist im Rollentausch […] mit einer erhöhten Aktivität des limbischen Systems oder den sogenannten subkortikalen Zentren verbunden. 60

Rollenwechsel

Das Erleben dieser Neuentwürfe, oder das Erkennen von Fehleinschätzung der eigenen Rolle hinterlässt einen bleibenden und tiefen Eindruck und erweitert das Verhaltens-Repertoire des Spielers in realen Situationen. Die Fähigkeit, Rollen spontan und kreativ zu verändern, ist nach Moreno ein Indiz für psychische Gesundheit. Unter ‚Spontaneität‚ versteht Moreno einen Zustand der Veränderungsbereitschaft und des situationsangemessenen Verhaltens.

Im Augenblick einer neuartigen, überraschenden Situation aktiviert das Individuum seine Spontaneität, […]. Auf sich selbst verwiesen, fragt der Mensch nach Handlungsweisen, um die geforderte Situation zu bewältigen. Er kann zu eigenständigen kreativen Reaktionen gelangen. Durch geringen eigenen Antrieb weicht er in Stereotypen aus. Moreno postuliert drei mögliche Reaktionsmuster. Keine Reaktion in einer Situation. […] Eine alte Reaktion auf eine neue Situation, eine neue Reaktion auf eine neue Situation. 61

Göttlicher Funke

Kreativität ist für Moreno die schöpferische Ursubstanz, der göttliche Funke in der menschlichen Hülle. Die Rolle eines Mitschöpfers kann der Mensch nur dann spielen, wenn er sich der Kreativität spontan öffnet.

Der Leiter oder die Leiterin eines Psychodramas sollte die intuitive Fähigkeit aufweisen, Wendepunkte im kathartischen Prozess der Teilnehmer zu erkennen oder sogar vorauszusehen und die Protagonisten zu diesen hinzuführen. Gruppenteilnehmer können als sogenannte ‚Hilfs-Ichs‘ verschiedene Gefühle oder innerpsychische Rollen des Protagonisten verkörpern.

Schmerzhafte Verwandlung

Auch in dieser Rolle als Hilfs-Ich kann der Mitspieler eine Katharsis erleben, wenn er oder sie in der gespielten Rolle nicht akzeptierte, unterdrückte Emotionen wiedererkennt und durchlebt. Das Psychodrama kann, so Buer, als Opferritual beschrieben werden:

Ein Auserwählter wird stellvertretend für die Gemeinschaft symbolisch ‚geopfert‘, indem er sich unter Beteiligung aller einer schmerzhaften Verwandlung unterzieht. 62

Der Protagonist übernimmt freiwillig die Rolle des Sündenbockes. Er/sie setzt sich der Gruppe aus, entblößt sich vor ihr, indem er mit ihr Szenen aufführt, die ihm/ihr sehr nahe gehen. Er begibt sich in eine labile, ungewisse Lage, um sein Weltbild neu zu ordnen.

Jede Weiterentwicklung erfordert das Opfer dessen, was in einer früheren Phase von fundamentaler Bedeutung war, damit nicht eine liebe Gewohnheit die Welt zugrunde richte. 63

Konserven

Alltagsrituale haben eine stützende Funktion und helfen dem Menschen dabei, in Zeiten der Krisen und der Transformation, die schützende Fassade aufrechtzuerhalten. Sie können aber auch zu Fesseln werden. Moreno spricht dann von Konserven.

Wenn ein Mensch so sehr in seinen/ihren Alltagsritualen gefangen ist, dass er/sie nicht mehr in der Lage ist, situationsangemessen auf Herausforderungen zu reagieren oder seine/ihre Ressourcen zur Bewältigung einer Situation nicht mehr ausreichen, erlebt er/sie diese als traumatisch oder krisenhaft. Das Psychodrama versetzt das Individuum dann in die Lage, aus seiner oder ihrer Erstarrung wieder herauszufinden, indem es durch die Stegreiflage zu kreativen Prozessen ‚anwärmt‘.

Dieses poetische [kreative Prozesse auslösende] Ritual bezieht sich dabei auf soziale Rituale, die der Protagonist in seinem Alltag als ‚Terrorzusammenhang‘ erlebt. […] Repressive Rituale des Alltags werden durch das psychodramatische Ritual durchbrochen […]. Das Psychodrama ist also ein anti-rituelles Ritual. 64

Überdruss am Schaukasten-Theater

Mit seiner Ablehnung des alten Theaters, das auf einem literarischen Text basiert, der auf der (Schaukasten-)Bühne zur Aufführung kommt, war Moreno nicht alleine: Bertolt Brecht schreibt über dieses alte Theater (des neunzehnten Jahrhunderts):

Gehen wir in eines dieser Häuser und beobachten wir die Wirkung, die es auf den Zuschauer ausübt. Sich um blickend sieht man ziemlich reglose Gestalten in einem eigentümlichen Zustand. Sie scheinen in einer starken Anstrengung alle Muskeln anzuspannen, […] untereinander verkehren sie kaum. Sie haben freilich ihre Augen offen, aber sie schauen nicht, sie stieren, wie sie auch nicht hören, sondern lauschen. 65

Bevor Moreno sein Psychodrama entwickelt hatte, sah er (in typisch moderner ‚Anti-Haltung‘) im Stegreiftheater die einzige Option für jede weitere Entwicklung des Theaters. Er verlangte die Vernichtung aller bisheriger Elemente des Theaters.

Stegreif Theater

Jeder sollte selber Dichter, (Schau-)Spieler und Zuschauer in einer Person werden. Das Stegreiftheater entsteht im Augenblick, Kreativität und Spontaneität werden dabei offenbar. Der dargestellte Konflikt ist hier keine Repräsentation einer literarischen Konserve. Er ergibt sich vielmehr direkt aus der Begegnung zweier oder mehrerer Bewusstseinslagen.

Unter Lage versteht Moreno einen psychischen Zustand. Der Übergang von einem Zustand zu einem anderen bedingt eine existenzielle Veränderung. In der Stegreiflage wird sich der Mensch seiner Konflikte bewusst und kann die konflikthaften Affekte kathartisch abreagieren.

Moreno postuliert eine Augenblickskunst, die als geordnete, äußerlich geformte Kreativität stattfindet. Spontaneität und Kreativität werden durch Gesetzmäßigkeit in ein Ordnungsgefüge gezwungen. Abweichungen gegen die Regeln duldet Moreno nicht. Er will ein Theater der Spielmächtigen schaffen […]. In [seinem] Theaterkonzept findet die Brüchigkeit der Existenz keinen Zugang. Chaos und Widersprüchlichkeit existieren nicht. 66

Das Arme Theater

Auch Jerzy Grotowski war in seinen Inszenierungen darauf bedacht, die Barrieren zwischen den Schauspielern und den Zuschauern niederzureißen, und das Publikum zur aktiven Beteiligung aufzurufen. Er ging dabei zwar von literarischen Textvorlagen aus, ließ aber im Probenprozess die durch die Auseinandersetzung der Schauspieler mit ihrer Rolle zutage geförderten individuellen Konflikte, sowie deren Lösungsversuche, in die Inszenierungen einfließen.

Der Text des Autors ist für uns beide, Regisseur und Schauspieler, eine Art Operationsmesser, um uns selbst zu öffnen, […] das Verborgene in uns herauszufinden und den Akt der Begegnung mit anderen zu vollziehen. 67

Der Schauspieler sollte wiederum durch diese sezierende Öffnung beim Publikum (das im Theater der 13 Reihen nicht von der Bühne getrennt war), schöpferische Wandlungsprozesse auslösen oder eigene Möglichkeiten und Grenzen ins Bewusstsein rufen. Grotowski appellierte, wie Moreno, an die Schöpferkraft des Menschen und seine Fähigkeit zur Transformation.

Abreißen der Masken?

Auch trat bei Jerzy Grotowski, wie bei Moreno, die Tendenz der historischen Avantgarde hervor, alles auf den Kopf zu stellen:

Das Theater bietet die Möglichkeit für das Abreißen der Masken, für das Offenbaren der wahren Substanz: die Totalität der physischen und geistigen Reaktionen. Hier zeigt sich die therapeutische Funktion des Theaters für den Menschen der heutigen Zivilisation. 68

Auch wenn diese therapeutische Funktion des Theaters nicht neu ist, sondern vielmehr so alt wie das Theater selbst: Das Entstehen der avantgardistischen Theaterkonzepte war eine Antwort auf die Überdistanziertheit des Schaukastenbühnen-Theaters des Neunzehnten Jahrhunderts sowie des Konzepts der Verkörperung von literarischen Rollen, die von der Leiblichkeit der Schauspieler so weit wie möglich abstrahieren sollte.

Spannung zwischen Schauspieler und Zuschauer

Im post-dramatischen Theater, das die performative Ästhetik schon so weit integriert hat, dass es in postmoderner Manier mit klassischen und modernen Theatersti en spielen kann, verlagert sich daher

das Energiezentrum des Theaterspiels […] in die Sphäre zwischen Spieler und Zuschauer […] weg von den dramatisch-szenischen immanenten Spannungen. 69

Der Rollenwechsel von Schauspielern und Publikum führt in post-dramatischen Aufführungen überdies, so Erika Fischer-Lichte, zu einer permanenten Verschiebung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses. So wird auf immer neue Weise die autopoietische Feedbackschleife zwischen Akteuren und Zuschauern zum Thema.

Rollentausch

[Diese Experimente fokussieren sich dabei auf] jeweils andere Parameter für die Aushandlung der Beziehungen zwischen Performern und Zuschauern […] [Im Rollentausch bzw. der Zuschauerpartizipation] geht es, wie verborgen auch immer, um die Aushandlung oder Festlegung von Positionen und Beziehungen und damit um Machtverhältnisse. […] Der Rollenwechsel […] bringt die scheinbare Dichotomie von Ästhetischem und Politischem zum Kollabieren. 70

Die Feedbackschleife zwischen Schauspielern und Publikum kann in jeder Aufführung derselben Inszenierung unterschiedliche Dynamiken entwickeln. Die Inszenierung legt in post-dramatischen Aufführungen nur die Rahmenbedingungen fest: Durch affektive Ansteckung, Nähe oder Entzug der Präsenz der Schauspieler oder durch körperlich affizierende Rhythmen.

Jede affektiv ausgelöste, performative Handlung, mit der ein Zuschauer den Rollenwechsel zum Akteur vollzieht, führt wiederum zu einer unvorhersehbaren Wendung in der Dynamik der autopoietischen Feedbackschleife.

Tabubruch

Kollektiv empfundene Affekte werden im Publikum dann ausgelöst, wenn starke Tabus gebrochen werden.

Für Tabus gilt generell, dass sie für Mitglieder der betreffenden Gesellschaft mit starken, meist hoch ambivalenten Gefühlen besetzt sind. Der Wunsch, sie zu brechen ist in der Regel ebenso brennend wie die Begierde maßlos, denjenigen, der tatsächlich ein Tabu gebrochen hat, bestraft und aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu sehen. 71

Der Tabubruch versetzt den/die Zuschauer/in in eine Krise des Verstehens und der Orientierung, auf die er/sie nur affektiv antworten kann. Die gefühlten Affekte werden unter diesen Umständen so stark, dass sie einen Handlungsimpuls auslösen können.

Theater der Grausamkeit

Das Ästhetische hört hiermit auf, Handlungs-entlastend zu sein. Die ästhetische Distanz ’schützt‘ den Zuschauer nicht mehr, wie in der klassischen Tragödie, vor den aufgeführten Konflikten. Der Konflikt findet in post-dramatischen Aufführungen nicht selten gerade zwischen Schauspielern und Publikum statt.

Deshalb spricht Antonin Artaud, der ebenfalls diese performative (dionysische) Durchbrechung der ästhetischen Distanz zum erlebten Pathos anstrebte, vom Theater der Grausamkeit:

Wie die Pest ist das Theater eine Krise, die mit Tod oder Heilung endet. […] Wichtig ist vor allem das Zugeständnis, dass das theatralische Spiel wie die Pest eine Raserei ist, und dass es ansteckend wirkt. 72

Ästhetische Erfahrung als leiblicher Prozess

In der Performance Kunst, die in den 1960er Jahren ihren ersten Höhepunkt erlebte, weitete sich die Unzufriedenheit mit der über-distanzierten Kulturpraxis auch in der bildenden Kunst aus. Für Bildende Künstler, die sich immer öfter der Performance Kunst zuwandten, gelangte deshalb – wie im post-dramatischen Theater – die ästhetische Erfahrung als leiblicher Prozess ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

Die Performances von bildenden Künstlern und generell die Ästhetik des Performativen betonen darüber hinaus stets das Moment der Abweichung, der Irritation, des Staunens, der Überwältigung und Verunsicherung.

[Diese bringt als das Andere des Denkens den Zuschauer] aus der Fassung […] und [entmächtigt] entsprechend Begriff und Zugriff. 73

Erhabene Erschütterung

Die ästhetische Erfahrung der Erschütterung angesichts des Unbegreifbaren, die die meisten Performances kennzeichnete, versetzt den Zuschauer in das Gefühl der Faszination. Wie das Erhabene in der Tragödie, verbindet diese Faszination widersprechende Empfindungen wie Anziehung und Abscheu:

Angst, dass wir ins Grenzenlose aufgelöst werden[…]; zugleich eine unheimliche Lust an jener Erfahrung, verwandt dem Gefühl des Schwindels, […] sein Leben in die unabsehbaren Gründe herab zu stürzen. 74

Irritation

Weshalb findet sich in in so vielen Performances diese Betonung des Nicht-Verstehbaren, der Irritation, der Verunsicherung, des Tabubruchs? Es geht dabei um die Herausstellung des Ereignischarakters des Geschehens, das auf nichts anders verweist, als auf sich selbst, und deshalb mit dem Verstand, mit Begriffen nicht zu fassen ist. Vielmehr soll es – oft widersprüchliche, konfligierende – Affekte auslösen.

Das Faszinierende, Erhabene wendet sich als Hereinbrechen eines Ereignisses gegen das Strukturierte, Werkhafte:

[Es findet ein] Innehalten, Aussetzen, Stummwerden der strukturierten […] Rasterung statt. […] [Die einzige Struktur ist] die Struktur des strikt unvorhersehbaren […] Ereignisses. 75

Verweigerung der Katharsis

Wie steht es angesichts all dieser ‚Überwältigungen‘ des Zuschauers um die Möglichkeit der Katharsis? Eine psychologische Katharsis wie sie in der Tragödie stattfindet (ein Abreagieren aufgestauter Affekte), ereignet sich in Performances selten. Denn die wenigsten Performances dauern so lange, dass sich ein dramatischer Spannungsbogen überhaupt aufbauen könnte.

Die Unerbittlichkeit der meisten Performances, im Zusammenspiel mit der Offenheit, in die sie die Zuschauer entließen, deutete sogar eher darauf hin, dass sie es darauf anlegen, Katharsis im Sinne einer kontrollierten Emotion-abfuhr zu verweigern. 76

Transformation durch die Performance?

Welche Art der Transformation ereignet sich dann in den, durch die Performancekünstler evozierten, Schwellenzustände?

So wie der Konjunktivmodus eines Verbs verwendet wird, um Vermutungen, Wünsche, Hypothesen oder Möglichkeiten, anstatt tatsächliche Tatsachen auszudrücken, so lösen die Liminalität und die Phänomene des Liminalen alle Tatsachen und Ordnungen des Gemeinsinns in ihre Bestandteile auf und ’spielen‘ mit ihnen auf eine Art und Weise, die in der Natur oder im Brauchtum nie vorkam, zumindest auf der Ebene der direkten Wahrnehmung. 77

Diesem gefährlichen, liminalen Spiel mit den Regeln und Komponenten des Systems, können, so Turner, Metakommentare über die soziale Ordnung entspringen, in denen sich scheinbar unpassende Elemente mischen.

Kollektive Katharsis?

Das Spiel des Möglichkeitssinns offenbart die Zufälligkeit und Wandelbarkeit dessen, was unsere Kultur als Realität ausgibt. Vielleicht findet die Katharsis in der Performance-Kunst nicht so sehr auf individueller Ebene statt, sondern wie beim Ritual eher auf kollektiver Ebene.

Die performative Ästhetik spielt mit den Rahmenbedingungen der Kunst selbst. Sie versetzt den partizipierenden Zuschauer in den Schwellenzustand – einem Zustand zwischen den Stühlen. Dieser gefährlich unbestimmte Zwischenzustand erweitert die Sinne aller Beteiligten um den Möglichkeitssinn. Dieser liminale Zustand bringt alles Festgefahrene aus dem Gleichgewicht und stellt dichotomische Begriffs-Schemata (Subjekt / Objekt, Signifikant / Signifikat, passiv / aktiv) infrage.

In der Performance Kunst und in post-dramatischen Theateraufführungen wird gerade jene kreative und spontane Situations-Angemessenheit, die Moreno als Maß psychischer Gesundheit ansetzt, und die sich auch in der Tragödie als Schicksals-entscheidend erweist, auf eine harte Probe gestellt.

Unmöglich, angemessen zu reagieren

Mit der Ablösung der neuzeitlichen Zentralperspektive durch die Multiperspektivität der Postmoderne gibt es vor allem in der (performativen) Kunst nur noch Felder mit unterschiedlichen Variablen‚ (Victor Turner), innerhalb derer die Regeln immer neu getestet und ausgehandelt werden müssen. Alles scheint sich nach der performativen Wende in den Künsten auf einen ‚maßlosen‘, krisenhaften Schwellenzustand hin auszurichten.

Die liminale Erfahrung bringt den Zuschauer in eine Lage, in der er/sie

[…] vorübergehend ohne feste Position, ohne verlässliche Beziehungen, ohne vertraute Umgebung, ohne klare Regeln und eindeutig definierte Aufgaben auskommen [muss]. 78

Sowohl der Performer oder die Performerin als auch die Zuschauer setzen sich freiwillig oder unfreiwillig Situationen aus, auf die sie in keiner Weise angemessen reagieren können.

Der Rahmen steht auf dem Spiel

Die Rahmen, die gewöhnlich die Handlungen orientieren und ihnen klare Regeln auferlegen, geraten ins Wanken.

Im Moment des Erlebens greift kein Interpretationsrahmen, sodass tentativ neu und anders gedacht werden muss. Die Kognition gerät in eine intensive Bewegtheit, in der ein Begreifen gestört, unterbrochen und verhindert wird. 79

Gleichzeitig werden die Zuschauer durch die Behandlung, der sich die Performer aussetzen oder durch den Schmerz, den sie sich selbst zufügen, gezwungen, sich selbst-mächtig für einen Rahmen zu entscheiden, und danach zu handeln.

Es steht ihnen offen, einzugreifen, die Performerin vor ihrer eigenen Konsequenz zu retten und damit die Performance zu beenden, oder die ‚ästhetische Distanz‘ um jeden Preis zu wahren und so zu Mittätern zu werden.

Performer in Gefahr

Tatsächlich endete die Befreiung der Zuschauer zu Ko-Subjekten manchmal (wie etwa bei Aufführungen von Dionysos in 69 der Performance Group von Richard Schechner in New York, oder Peter Handkes Publikumsbeschimpfung am Wiener Burgtheater) damit, dass die befreiten Zuschauer nun ihrerseits die Performer unterdrückten und ihnen Gewalt antaten. 80

Performancekünstler setzen sich also tatsächlich und nicht nur spielerisch der Gefahr (der Gewalt) aus, wenn sie die ästhetische Distanz zwischen Schauspieler oder Performer und Zuschauer durchlässig werden lassen – auch dann, wenn die Gewalt gar nicht explizit Thema der Performance ist.

Masochistische Performance

Die ästhetische Distanz erweist sich in dieser Krise der Orientierung auch in einer anderen Hinsicht als durchlässig: Das Mitleid richtet sich in ‚masochistischen‘ Performances nicht auf ein gespieltes, auf ein als-ob Leid, sondern auf realen Schmerz.

Wie lange kann man das selbstquälerische Verhalten der Performerin oder des Performers noch aushalten? Ist das Mitleid echt – so echt wie der reale Schmerz, den die Performerin empfinden muss – wenn daraus keine Konsequenzen folgen?

Aus der Opferritual-Perspektive ist auffällig, wie viele Performances gerade in der Zeit der Entstehung dieser neuen Kunstform, in den 1960er und 70er-Jahre nach dem Schema der Selbstverletzung, oder des Sich-der-Gewalt-Aussetzens abliefen (unter anderen Performances von Marina Abramovic, Rachel Rosenthal, Günter Brus, Chris Burden).

Freiwillige Selbstopferung

Es scheint, als biete sich die Performerin freiwillig als Opfer des eigenen Opferrituals der dazu eingeladenen Gemeinschaft dar. Performances stellen, wie Theateraufführungen und andere liminoide Rituale, Gemeinschaften des Augenblicks her.

Doch unter dem Wegfall der ästhetischen Distanz ändert sich – je nach Erfahrungsexperiment der Performance – die Energieübertragung oder die autopoietische Feedbackschleife zwischen den Performern und der Performance-Gemeinschaft.

Es handelt sich […] um einen Übertritt der Kunst in den sozialen und öffentlichen Raum, um einen Interventionalismus oder eine Ethik der Praxis, die den Betrachter tendenziell zum Partizipienten, zum Kollaborateur macht, der nicht mehr ausweichen kann und folglich Stellung beziehen muss. 81

Überschreitung

Die Transgression der Performance ist eine mehrfache: nicht nur vom Kunstraum in den öffentlichen Raum, sondern auch von der ästhetischen Wahrnehmung zur ästhetischen Erfahrung, vom passiven Betrachten zum Handeln, von der Zeichenhaftigkeit der Körper zur leiblichen Referenzlosigkeit, vom Bedeuten zum Sein. Die Auseinandersetzung mit der Gewalt findet deshalb in Performances auf einer anderen Ebene statt, als in der Tragödie.

Haltung einnehmen

Durch die freiwillige ‚Opferung‘ der Performerin wird der Schmerz des Opfers unmittelbar und ohne die ästhetische Distanz des Als-ob erfahrbar.

Die körperliche Wirkung, welche die Handlung auslöst [E. Fischer Lichte bezieht sich hier auf M. Abramovics Performance Lips of Thomas] scheint hier Priorität zu haben. Die Materialität des Vorgangs wird nicht in einen Zeichenstatus überführt, verschwindet nicht in ihm, sondern ruft eine eigene, nicht aus dem Zeichenstatus resultierende Wirkung hervor. 82

Kein Medium, keine Bedeutungsfilter sind mehr zwischen dem Opfer und der Augenblicksgemeinschaft der Performance.

Fern sehen

Als der Vietnamkrieg als erster Krieg vom Medium des Fernsehens in die Wohnzimmer ‚übertragen‘ wurde, gingen die grauenhaften Bilder den meisten zwar sehr nah, und lösten eine Gegenbewegung aus, gleichzeitig blieb das Geschehen aber für jene, die den Krieg nur in den Medien mitverfolgten, immer seltsam fern – unter anderem deshalb, weil der Fernsehende jederzeit die Übertragung beenden, den Fernseher abschalten konnte, wenn er oder sie sich den grausamen Bildern nicht mehr länger aussetzen wollte. Dieses Ausschalten, Weiterzappen oder Wegwischen aus dem medial übertragenen Geschehen hat keine Konsequenzen, wird sogar meist nicht einmal als Handlung empfunden.

Mit fühlen

Vermittelt durch Medien – sei die Gewalt auch noch so realistisch und scharf, auf dem überdimensionalen Flat-Screen präsent und die Darstellung von Gewalt auch noch so krass – kann niemals körperlich erfahren werden, wie sich ein Opfer kollektiver Gewalt, oder auch ein Mittäter, fühlt. In Performances wie Abramovics Lips of Thomas wird diese Erfahrung der Gewalt hautnah evident.

Indem Künstler ihre spezifische und individuelle Körperlichkeit [in der Performance] hervorbringen, vollziehen sie Prozesse, mit denen sie die Verletzlichkeit ihres Körpers, sein preisgegeben-Sein an die Gewalt, seine Lebendigkeit und die Gefährdung, die aus ihr erwächst, verkörpern. 83

Erbe des tragischen Pathos?

In dieser Hinsicht treten solche Performances, die Gewalt kollektiv erfahrbar machen und auf ihre Art das Opferritual wieder aufführen, das Erbe des tragischen Pathos an. Sie bieten die Gelegenheit, in der leiblichen Kopräsenz von Performer/in und Performancegemeinschaft grenzüberschreitende, im lebendigen Fleisch (Maurice Merleau-Ponty) empfundene, schmerzhaft nahegehende Empathie zu empfinden. Anders als beim Akt des Abdrehens des Fernsehers wird der Zuschauer in dieser leiblichen Kopräsenz zum Teilnehmer. Ob er/sie es will oder nicht.

Die Aufführung [oder Performance] entsteht als Resultat der Interaktion zwischen Darstellern und Zuschauern. […] Die Aufführung ereignet sich zwischen Akteuren und Zuschauern, wird von ihnen gemeinsam hervorgebracht. 84

Statuswechsel

Durch die rituelle Partizipation an der geteilten Schuld findet eine performative Transformation statt, die sich beim Fernsehen niemals einstellen wird: Jedes Eingreifen, jedes Nicht-Agieren angesichts des gewaltsamen Geschehens, ja selbst das Verlassen des Ortes des Geschehens wird tatsächlich zu einem öffentlichen Statement – zu einem performativen Status-Wechsel – und in diesem Sinne zu einer Initiation jedes einzelnen Zuschauers und der Augenblicksgemeinschaft, die sich um das Geschehen versammelt hat.

Leibliches Gedächtnis

Anders als die immer weiter in die Ferne rückende, immer abstrakter und weniger fassbar werdende kollektive ‚Schuld‘ an Kriegen in fernen Ländern, lässt sich dieses ungute Gefühl in der Nähe des gemeinsam in einem Raum erfahrenen Ereignisses nicht einfach wegschieben und abschalten. Auch wenn man die Performance vorzeitig verlässt, bleibt dieses Gefühl im leiblichen Gedächtnis haften.

In der Performance-Kunst wird das Publikum, aus seiner Rolle als Sadist, auf subtile Weise zum Opfer. Es ist gezwungen, die Notlage des Künstlers nachdrücklich zu ertragen oder seine eigene Reaktion auf Voyeurismus und sein Vergnügen oder seine Selbstgefälligkeit und Überlegenheit zu untersuchen […] in jedem Fall hält der Performer die Zügel in der Hand […] das Publikum ‚gibt‘ gewöhnlich vor dem Künstler auf. 85

Autorin: Eva Pudill

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